Alte Suppe aus neuen Dosen
Blätter liegen hinter dem aufgetürmten Klavier da,
lauter buntes Laub, in das der Sturm sich eingedeckt
hat. Hier erreicht mich ein Flüstern aus gefrorenen
Dosen. Ich warte an der Tür und ahne nichts von dem
Blätterberg hinter dem Klavier und auch von dem darin
schlafenden Sturm weiss ich noch nichts. Ein Haus
durchzuckt soeben die Windungen des Abflusses, ich
friere in der hereinbrechenden Finsternis und
vorsorglich habe ich meinen Kamin mit einem Stapel
alter Zeitungen verstopft, denn ich will ja nicht,
dass heuchlerische Massenworte durch ihn zu mir
einziehen, schon gar nicht in Zeiten wie diesen.
Die Dosen sind doch hohl - das ist's, was ich denke.
Von meinem sicheren Platz im Rahmen aus versuche ich,
einen Blick auf die Fenster zu erhaschen, doch bloß
das seichte Wehen der schleierhaften Vorhänge
zeichnet sich schemenhafter Konturen ab in der
Dunkelheit, die sich Zeit um Zeit verdichtend tonlos
in das Zimmer driftet. Allein dort auf dem Klavier
brennt noch ein kleines Licht, so schwach, so
unsagbar schwächlich. Nichts bringt dieser blasse
Schein ins Helle, doch ich kenne diesen Raum und
bedauere das hereintretende Dunkel von daher nicht...
aber warum halte ich mich dann so fest an dem
blechernen Rahmen, ich hänge daran wie ein
Ertrinkender an einem kläglichen Stück Treibgut und
ich bemrke dieses; es schweigt das Klavier und stumm
zitternd stimme ich in diese Stille mit ein.
Da ist zwar mein Atmen, dröhnt so heftig stoßend wie
das Kläffen fallender Wasser. Da ist auch das
Flüstern aus den Dosen, das sich leise, schnell und
zielsicher wie auf einer Murmelrutsche in die Gefilde
meiner Denkmasse windet. Doch nichts davon berührt
mich wirklich in diesem Augenblick; das Klavier und
ich schweigen uns verbissen weiter an und mein
elendiges Kältezittern geht konstant konform mit dem
Zucken der verbannten Fassade, die da gerade
rauschend durch den Abfluss fährt. Mich tröstet es,
in dem Rahmen zu bleiben, mir ist es, als sei er mir
der letzte verbliebene Halt in der Realität. Aber das
Klavier zieht mich in seinen klassischen Bann und es
ist zu kalt, um darüber nachzudenken, warum das so
ist und wieso jetzt. Es passiert ganz einfach.
Da liegt etwas Verborgenes in der Verschwiegenheit,
ich kann es spüren, ich WEISS es!!
...doch ich kann es nicht richtig erfassen. Zu kalt.
Zu dunkel. Plötzlich ein Glucksen und Blubbern aus
der Spüle. Das bedeutet, dass das Haus jetzt endlich
im Kanal verschwunden ist und für die Dauer einer
ziemlich bleichen Weile streift ein Gedanke die
linke Seite meines Bewusstseins - wenn ich zum Strand
gehe in 12 Tagen, dann werde ich dieses Haus stehend
im heissen weissen Sand und geblendet vom Lichte der
unbarmherzigen Mittagsglut wieder sehen, wie es dann
dort auf den Wogen der Wellen wandert und mich aus
dem Wasser heraus anstarrt mit seinen vorwurfsvollen
Fenstern und für einen winzigen Moment lang stelle
ich mir bildlich vor, wie es dann seine Flügeltür in
meine Richtung auftut und mir zuruft, wie wütend es
jetzt auf mich ist, weil ich es in den Abfluss
verfrachtet habe. Rasch verdränge ich diesen Gedanken
und nicht von üblem Erfolg gekrönt, denn das an ihm
haftende Grauen verflüchtigt sich kommentarlos mit
ihm. Kein verräterisches Geräusch steigt nun mehr aus
dem Ausguss zu mir empor, das kann mich irgendwie
beruhigen. Aber da ist ja immer noch das Klavier, es
glotzt mich an und sagt nichts, ich glotze zurück und
sage nichts. Ich denke nach. Ich habe ein ganzes
großes Haus im Kanal versenkt, da würde so ein
kleines Klavier auch locker durch den Ausguss passen.
Aber ich habe nicht vor, es einfach so runter zu
spülen, solange ich nicht weiss, was verdammt nochmal
DAHINTER steckt.
Ich habe auch einen Blick hinter das alte Haus
geworfen - was ich dort fand war dann auch der Grund,
warum ich es nicht mehr länger um mich haben wollte.
Jetzt habe ich ja ein neues, es ist viel besser als
das alte, es hat hinter sich einen Steingarten (den
ich selber gepflanzt habe) - das absolute Gegenteil
von dem verruchten Ort, der sich hinter dem alten
Haus befand, das ich jetzt entsorgt habe.
Was ist bloß los mit diesem verfluchten Klavier?
Warum sieht es mich so an und warum lässt es mich
nicht los? Was ist dahinter, was ist dahinter,
was dahinter...das gebrüllte Flüstern aus den
unterkühlten Dosen beginnt, in meinen Verstand zu
singen, fast falle ich aus dem Rahmen dabei. Was es
singt, das hat in etwa den folgenden Wortlaut:
"Geh' hin! Sieh' nach! Zwing' dich! Du willst es
nicht sehen, aber du musst es verstehen!"
Oh, und da kann ich mir jetzt ehrlich ein echt gutes
Bild von machen, was sich hinter dem Klavier nun
verbirgt. Ich denke an das alte Haus dabei. Aber es
nützt alles nix - ich kann zwar wohl hier in meinem
verhältnismäßig sicheren Rahmen stehen bleiben und
auf die Wiedergeburt des Tages hoffen, doch ich
weiss, dass ich mich dann niemals wagen werde, hinter
das Klavier zu blicken und dann werde ich auch nie
herausfinden, was dahinter ist, wennschon ich es von
hier aus bereits zu erahnen vermag.
Vorsichtig gleite ich also aus dem Rahmen der Tür
hinein in das Zimmer. Ich nähere mich dem Klavier und
umso näher ich ihm komme, desto kälter scheint es
zu werden um mich herum. Jetzt stehe ich vor dem
Klavier, friere, wie ich niemals zuvor gefroren habe und zähle die Tasten, erst die schwarzen, dann die
weissen, dann zähle ich beide Ergebnisse zusammen.
Ich halte mich endlos unnötig lange damit auf.
Das Dosengeflüster in meinen Gedanken schwillt an und
kreischt. Warum will es mich jetzt warnen?!
Es hat mich doch erst hier her geschickt!?
Jetzt bin ich verwirrt, aber es gibt kein Zurück mehr
denn es ist schon zu spät. Ich spähe hinter das dicke
Klavier und erblicke den herben Laubhaufen, frag'
mich, warum das da keiner weg geräumt hat und mache
mich sodann daran, es selber bei Seite zu schaffen,
wische aufgewühlt die zusammengerauften Blätter
auseinader. Ein lauer warmer Sommerwind stöhnt durch
die unsichtbaren Fenster herein und pustet müßig ein
paar von ihnen durch das finstere Zimmer, wobei der
ohnehin schon so schwächliche Schein am Klavier in
disharmonisches Flackern verfällt. Ich grabe weiter
in den Blättern, tiefer, erwecke damit den
schlafenden Sturm, der sich auch promt spontan aufrichtet und mich nun verdutzt anschaut mit entzündeten Augen.
Erschrocken stürze ich um das Klavier, stürze dabei
hastend auf die Tasten - die Melodie, die sich daraus
ergibt, ist bloß ein schauriges Geräusch irgendwo
verzerrt im dunkelgrünen Spektrum der Klangfarben.
Der Sturm erhebt sich wütend um den Schlaf gebracht
von seinem ruinierten Lager und richtet sich gegen
mich. Sein Aufbrausen lässt den fahlen Schein der
Kerze am Klavier zur Gänze erlöschen. Ich atme ihn
tief ein und spüre dann doch keine Luft mehr in mir.
Aber wenigstens weiss ich jetzt, warum es in meinem
schönen neuen Haus die ganze Zeit über so verdammt
KALT gewesen ist.