BeeindruckendEr saß da in seinem Wohnzimmer im Sessel und betrachtete das Gemälde. Eigentlich war es ja hässlich.
Es hatte ihm von Beginn an nicht sonderlich gefallen. Aber je länger es hier hing, umso weniger gefiel es ihm. Heute löste es sogar etwas Angst bei ihm aus. Aber es war halt ein echter Kirchner. Paul Reischmann hatte es vor 5 Jahren erstanden und das in einem Auktionshaus. 200.000 Euro blätterte er dafür hin und das war für einen echten Kirchner noch ein Schnäppchen. Da musste er einfach zuschlagen. Und er schlug nicht ohne Grund zu, denn er wusste, was es bedeutete einen echten Kirchner an der Wand hängen zu haben. Schnell sprach es sich herum im Freundes- und Kollegenkreis und er stand im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Damals veranstaltete er eine Party extra zu diesem Anlass und alle kamen und bewunderten ihn und das Gemälde. Wenn er ehrlich zu sich selbst war, dann musste er gestehen, dass er nicht viel von Kunst verstand. Noch nie hatte er sich gefragt, was Kirchner dazu brachte ein solches Bild zu malen. Er war in allen Ausstellungen gewesen. Immer wenn er in eine Fremde Stadt kam besuchte er das Museum und die Kunstgalerie. Die Leute staunten immer, wenn er erzählte: “Gestern war ich in Frankfurt. Das Museum für moderne Kunst habe ich mir nicht entgehen lassen“ und er fügte dann immer noch fast beiläufig hinzu „beeindruckend“. Die Leute waren dann beeindruckt und trauten sich gar nicht mehr nachzufragen, weil sie Angst hatten es könnte herauskommen, dass sie nicht viel von Kunst verstehen. So hatte er immer die Bewunderung auf seiner Seite.
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Paul Reischmann kauerte in seinem Sessel, den Blick stur und röhrenähnlich auf das Gemälde gerichtet. Seine Hände zitterten und alles erschien ihm wie aus einer anderen Welt, so als ob jemand einen Keil dazwischen getrieben hätte. Er fühlte sich wie eine Pflanze, die Frost abbekommen hat. Alles schien aus den Angeln gehoben zu sein und ein Ende war nicht abzusehen. Wenn er seinen Zustand einem anderen erklären sollte, dann stockte er und suchte nach den richtigen Worten, nach den richtigen Worten, um einen Schauder zu erklären, für den es keine Worte gab. Wohin sollte er noch gehen? Zur Hölle, wo liegt das? Langsam, ganz unbemerkt hatte es sich eingeschlichen und es verzweigte sich, wucherte und wuchs, bildete Verästelungen, verdichte sich und schließlich gewann es die Überhand und nahm von seinen ganzen Körper Besitz. Zuerst wehrte er sich noch, aber bald kristallisierte sich heraus, dass hier jeder Widerstand zwecklos war. Und er versuchte es zu erklären, er stellte Theorien auf. Immer neue Theorien und immer mehr Theorien, die er alle wieder verwarf. An keine Theorie konnte er seine Hoffnung knüpfen. Es überfiel ihn und hatte ihn in seinen Bann geschlagen und hielt ihn fest mit eiserner Hand und er wusste nicht, wie er diese Hand wieder lösen konnte. So saß er hier hilflos, kauernd in seinem Sessel und betrachtete das Bild. Das Bild eines großen Malers, das einst eine immense Wichtigkeit für ihn hatte war zur vollkommenen Bedeutungslosigkeit erstarrt. Einst hatte es ihn aufgebaut, er hatte diesen Kirchner erstanden und es war ein Symbol dafür gewesen, dass er es geschafft hatte. Doch jetzt in diesem Moment lief ihm ein kalter Schauer über den Rücken, als er es betrachtete. In dem Schreckenstal, in dem er sich befand, konnte ihm kein Kirchner, nicht einmal ein Picasso helfen. Und gerade in diesem Moment gestand er sich ein, dass er fremde Hilfe brauchte. Er brauchte fremde Hilfe, er der noch vor kurzer Zeit so sicher mit beiden Beinen im Leben stand und dessen Stern am Firmament leuchtete. „Was hat mich bloß so ruiniert“, war die einzige Frage, die er sich noch stellte. ●
Paul Reischmann konnte nicht mehr mithalten. Er traf sich mit den Leuten, die er für seine Freunde hielt und sie unterhielten sich über bestimmte Artikel in Fachzeitschriften, oder kritisierten irgendwelche Bücher, die er neuerdings nicht gelesen hatte. Schnelllebig war das Leben geworden. Man musste ständig auf dem Laufenden bleiben, sich ständig informieren, die neuesten Trends abschätzen und verarbeiten. Die Konkurrenz war groß geworden und das Land wurde von einem Markt bestimmt, der ein Höher, Schneller, Weiter von allen verlangte. Das traf vor allem auf Leute in seiner Position zu, auf Leute, wie er, die in einer Leitungsposition bei einem großen Wirtschaftsunternehmen waren. Eine Sekunde Stillstand, eine Sekunde Innehalten bedeutete gleich, dass es andere gab, die den hart umkämpften Platz einnahmen. Dann zählte nicht mehr, was man schon geleistet hatte, dann wurde man hier innerhalb kürzester Zeit von ganz oben nach ganz unten durchgereicht. Paul Reischmann hatte nicht mehr die Energie dazu und alles drehte sich nur noch um die eine Frage: “Was hat mich bloß so ruiniert“. Diese Frage verschluckte die Energie, die er früher dazu verwendet hatte nach oben zu kommen. Er konnte sich im allgemeinen Wettkampf des Wissens, das sich bis in den privaten Bereich verästelte nicht mehr behaupten. Eitel Sonnenschein herrschte in den Kreisen, in denen er sich bewegte und es war kein Raum für die negativen Seiten des Lebens. Man gab ihm kurz einen guten Ratschlag und ließ sich dann für die nächsten Stunden nicht davon abbringen die neuen Entwicklungen zu diskutieren, Entwicklungen, die Paul Reischmann nicht mehr interessierten. Irgendwann mied Paul Reischmann die Treffen mit seinen ehemaligen Freunden. Auch seine Freundin sonnte sich jetzt mit einem anderen Mann an den beliebtesten und teuersten Stränden dieser Welt. Er ließ sich krank schreiben. Zum ersten mal in seinem Leben hatte Paul Reischmann Zeit sich Gedanken zu machen, wer er war, was er wollte und er spielte mit dem Gedanken auszusteigen. Er nahm professionelle Hilfe in Anspruch. Er hatte erwartet, dass er hier eine Antwort auf seine Frage bekommen würde. Dies geschah nicht. Man verschrieb ihm Medikamente und sagte ihm, das es seine Zeit brauchen würde. Und so begriff er langsam, dass ihm niemand helfen konnte. Wenn er es nicht selbst herausfand, ein anderer konnte es nicht für ihn tun. Zum ersten mal in seinem Leben begriff Paul Reischmann, was es bedeutete allein zu sein. ● Paul Reischmann war einen guten Rat seiner Freunde gefolgt. Er solle sich doch mal Menschen anschauen, denen es noch viel schlechter ging als ihm. Als er sich hier so umschaute bezweifelte er langsam, dass es den Menschen hier schlechter ging. Sie tanzten, sangen und lachten. An der Wand hingen Bilder, die sie gemalt hatten und Paul Reischmann war erstaunt. Manche Bilder erinnerten ihn sogar an bestimmte Bilder, die er in den Galerien gesehen hatte. Im Garten pflanzte man einen Baum und man sang dazu Lieder. Alles war so fröhlich und ausgelassen, hier beim Tag der offenen Tür der Lebenshilfe. Ein Mädchen lächelte ihn freundlich an, kam auf ihn zu und sagte: “ich mag Dich“. Da zuckte er zusammen und von außen betrachtet hatte es den Anschein, als ob ihm dieser Ausspruch gar nicht recht gewesen wäre. So ungewohnt war es und er fragte sich, wann das zuletzt ein Mensch zu ihm gesagt hatte und er konnte sich nicht daran erinnern. Langsam tat der Ausspruch seine Wirkung und es wurde ihm etwas warm ums Herz und so begann er bald mitzusummen bei den Liedern. Wenn er sich das Treiben hier so ansah, dann glaubte er nicht, dass diese Menschen hier zu solchen Intrigen fähig waren, wie er sie im Beruf und Privatleben in den letzten Jahren so oft erlebt hatte. Die Menschen hier hatten eine fröhliche Grundstimmung und man konnte nicht glauben, dass sie etwas Böses im Schilde führen. Sie spielten keine Rolle und waren offen und gutherzig. Sie halfen sich gegenseitig. Alle hatten nicht viel Geld und vielleicht war Geld auch gar nicht nötig, um fröhlich singen zu können. Paul Reischmann unterhielt sich mit der Einrichtungsleitung und die sagte ihm, dass die öffentlichen Mittel immer knapper werden und dass man bald das Betreuungsniveau senken musste. Da müsste man dann auf den ein oder anderen Ausflug verzichten und man müsse mit weniger Personal auskommen. Die Betreuer können dann nicht mehr so intensiv auf den einzelnen Schüler eingehen. Während sie das sagte kam das Mädchen ein weiteres mal auf Paul Reischmann zu und sagte: “ich habe Dir ein Bild gemalt“ und überreichte ihm ein farbenfrohes Gemälde, das ihn irgendwie an einen Maler erinnert.
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Paul Reischmann saß in seinem Sessel und betrachtete das Bild. Es war ein anderes. Er hatte den Kirchner verkauft und stattdessen das Bild des Mädchens gerahmt und aufgehängt. Es ging ihm nun besser. Er war noch nicht gesund, aber er bemerkte eine Entwicklung in die positive Richtung. Wenn er das Gemälde betrachtete, dann dachte er an das Mädchen und sein Herz erwärmte sich. Er hatte den Kirchner verkauft und hatte das Geld gespendet. Er wollte, dass es den Schülern weiterhin gut geht und dass sie weiterhin ihre Lieder singen können. Er machte sich in den letzten Tagen ganz andere Gedanken. Zum Beispiel, ob wir sie nicht genauso brauchen, wie sie uns. Ob wir sie weiterhin ausschließen sollten? Man sollte sie einfach mal mitnehmen und sie teilhaben lassen, denn die Welt ist für alle da. Als er Tage später zu seinen Nervenarzt ging, konnte er ihm von einer positive Entwicklung berichten und der Nervenarzt sagte: “Ich habe ihnen doch gesagt, die Wirkung des Medikaments kommt nach zwei bis drei Wochen so richtig zum Tragen.“ |