Toter Rabe
Robin Hoffmann
Toter Rabe
15.Januar 2008
Man merkt, dass der scheiß Winter sich hoffentlich bald verzieht, denn gestern kamen die ersten warmen Sonnenstrahlen und der Himmel ist blau und freundlich. Obwohl mir diesmal der Winter gar nicht so lang vorkam und das sage ich zu einem Zeitpunkt, zu dem zu jeder Zeit wieder ein Schneesturm hereinbrechen kann. Ich habe noch 35 Euro zur Verfügung. Von meinem Einkauf habe ich mir Brot, zwei Mineralwasserflaschen, eine Packung Eukalyptusbonbons, eine Flasche Rotwein (lieblich, Mazedonien), eine Tüte Kartoffelchips mit Paprikaaroma und eine Schachtel Pall Mall Menthol, welche ich während des Weinkonsums halb leerte, sowie eine Vierkäsetiefkühlpizza, quasi das exquisite Hauptmenü des Abends, gegönnt. Knapp zehn Euro. Ich hatte innerhalb von 24 Stunden George Orwells „1984“ gelesen und noch eine Erzählung von Witold Gombrowicz. PC und Fernseher funktionieren nicht, zum weiteren Lesen zu unkonzentriert, zum Lernen keine Motivation. Mir schießt das Bild des sogenannten Armenviertels, der Friedensallee in Zipsendorf gelegen, in den Kopf. Dort war ich aufgewachsen und erst jetzt merke ich, dass sich die jetzige und die damalige Wohnsituation stark ähneln, von der Straßenlage und der Bepflanzung zumindest. Einmal im Jahr 2006, ich habe damals schon in Berlin gewohnt, war ich mit Ali noch einmal dort und es hat mich erschüttert, dass ich dort einst gewohnt haben soll. Meine Eltern wollten das Beste für mich und so schnell wie möglich von dort wegziehen, was sie dann auch vollbracht haben, aber dort gewohnt zu haben, hat einen fürs Leben geformt. Ich war fünf und spielte mit den Kindern der Nachbarschaft, welche sich auf der Straße tummelten, da ihre Eltern schon nachmittags besoffen waren oder sie nicht nach Hause wollten, da sie dort geschlagen wurden. Man konnte es hören und wenn man es nicht hören wollte, dann sah man am nächsten Tag die blauen Flecken. Und so ging es oft. Unsere Nachbarn bekamen in aller Regelmäßigkeit und solange es Kindergeld gab, jedes Jahr ein neues Baby. Lebensunterhalt durch Vermehrung. Jedenfalls, eines Tages spielten wir im Hof und danach auf den kleinen Grünflächen, die direkt an der Hauptstraße zwischen Zeitz und Altenburg lagen. Gegenüber den Wohnkomplexen in unserer Straße, der Friedensallee, lag ein Friedhof und wie mir jetzt einfällt, habe ich das nie sonderlich verarbeitet. Aber als wir so unbedarft und naiv und ohne einen Blick hinter die Kulisse zu werfen spielten, so wie Kinder das nun mal machen, fanden wir einen toten Raben zwischen den drei Bäumen, durch die ein kleiner Pfad führte. Dort waren zwei Bänke für die alten Leute angebracht, aber an diesem Tag saß keiner da. Neugierig bestaunten wir den toten Vogel. Ich erinnere mich, als sei es gestern gewesen. Sein Gefieder war sauber, er hatte keine Wunden, seine Augen waren offen und doch war er tot. Einige Kinder pieksten ihn misstrauisch mit Holzstöcken an, aber keiner traute sich, ihn anzufassen. Ein zurückgebliebener Junge, der mit mir zusammen eingeschult und einen Monat später auf die Sonderschule versetzt wurde, wühlte aus den Mülltonnen neben den Bänken einige kleine Schnapsfläschchen heraus. Wir wunderten uns. Er kniete nieder, mit seinen eh schon verdreckten Hosen in den Schlamm, legte die Flaschen ins Gras und sah uns schweigend grinsend an. Dann sah er nach unten, mit der linken Hand hielt er den unteren Teil des Schnabels des toten Raben fest, mit der rechten öffnete er den oberen Teil. Er schüttete, aus welchem Grund auch immer, die Schnapsreste in die Kehle des Raben und trotz des Ekels sahen wir zu. Keiner sagte ein Wort. Keiner wusste, was das zu bedeuten hatte. Ich kann mich dann nur noch daran erinnern, dass ich nach Hause ging, wo meine Mama schon das Mittagessen fertig hatte. Ab dann fehlt mir jede Erinnerung. Und doch hat sich dieser Tag, zumindest das Erlebnis, von dem ich nicht einmal sagen kann, wann genau es sich zugetragen hat, so fest in mir eingebrannt, dass ich es nie vergessen werde. Er nahm den toten Raben, öffnete den Schnabel und tröpfelte ihm die Schnapsreste ein, sein Gesicht war schmutzig, sein T-Shirt verwaschen. Er wohnte in dem Hinterhof ganz hinten vor den Bahnschienen, dort, wo man dachte, sie hätten gerade den Sperrmüll herausgeschafft. Aber der Krempel stand das ganze Jahr dort, gehörte quasi zur Außeneinrichtung, alte Möbel, Schrott, Eisenteile, vollgeschissene Kaninchenställe und Lumpen. Jahre später wurde die ganze Friedensallee rundum neu saniert, es wurden strahlende, helle und wohnliche Gebäude, mit Ausnahme der ersten drei oder vier Häuser. Hier blieb entweder alles gleich, wie vor der Wende oder es verschlimmerte sich sogar noch, es leben Menschen in wild zusammengeflickten Zelten zwischen Gerümpel und den Lauben am Ende des Hinterhofs. Dieser Junge und das, was er tat, hat sich bei mir so verankert, dass ich auch jetzt nach so langer Zeit daran denken muss. Ich weiß nicht, was er macht, wahrscheinlich hat er keinen Schulabschluss, seine Eltern werden ihm eingeredet haben, dass Ausländer daran schuld seien, dass er keine Arbeit bekommt und so sitzt er mit seinen Freunden, die bestimmt fünf Jahre jünger sind, immer noch auf den Bänken in der Friedensallee, er in einer schwarzen und innen orange gepolsterten Bomberjacke, in alten Jeans und mit einem Sternburg in der Hand. Sie sitzen einfach so jeden Abend da und trinken und rauchen und blicken auf die vorbeifahrenden Autos. Er wohnt bestimmt noch bei seiner Mutter, seit mehr als zwanzig Jahren mit denselben schimmeligen Wänden und dem Plumpsklo im Treppenhaus. Ich sehe vor mir, wie er sich auf der Heimfahrt von der Berufsschule im Bus das erste Bier aufmacht und sich mit irgendeinem Kollegen über den Alltag unterhält, der ihn so ankotzt. Er ist wütend und ohnmächtig, hat aufgehört sich zu wehren und lebt so einfach vor sich hin, ohne Ziel und ohne Bestimmung. Er wird nie weiter herauskommen als bis ans Ende dieser Straße und wenn seine Mutter gestorben ist, wird er in der Wohnung sitzen und seine Kinder auf der Bank bei den Grünflächen. Unsere anderen ehemaligen Nachbarn in der Friedensallee waren auch nicht anders. Lothar, der über uns wohnte, war ungepflegt, er hatte einen struppigen, grauen Schnauzer, eine goldumrandete Brille mit Kette, die auf seiner Brust baumelte, wenn er sie nicht trug, seine Haut war zerfurcht und vom Alkohol schon braun geworden. Unter seinen behaarten Armen lagen alte, verblasste und dahingeschmierte Tätowierungen, aus seinem Mundwinkel brannte immer eine braune Zigarillo und immer hörte man, wie er nach seiner aufgedunsenen Frau schrie. Einmal wurde ich von seinem Schäferhund angefallen, als ich als kleiner Junge auf dem Hinterhof spielte, was mir für den Rest meiner Kindheit Angst vor Hunden verursachte. Nebenan wohnte die eingangs erwähnte Großfamilie mit jährlicher Nachwuchsgarantie. Der Vater trug eine Nickelbrille und eigentlich sah er von seiner ganzen Erscheinung her aus wie die abgefuckte Version eines abgefuckten Rötger „Brösel“ Feldmann, dem Zeichner der Trickfilm- und Comicfigur WERNER. Uns gegenüber war er meist hilfsbereit und einigermaßen nett, wenn man es denn so nennen kann, aber dafür verprügelte er so oft es ging seine Kinder, die ihre Kleidung entweder von der Altkleidersammlung oder von älteren Geschwistern erbten. Zur Zeit müsste er im Knast sitzen, da vor wenigen Jahren herauskam, dass er zusammen mit seiner Frau seine älteste Tochter vergewaltigt und das ganze auch noch auf Video festgehalten hatte. Man hätte viel von ihm erwartet, aber nicht so etwas. Seine damals, also Anfang der 90er Jahre, jüngste Tochter, hat wie ich glaube jetzt selbst schon Kinder. Eines Tages traf ich seinen ältesten Sohn, der nur ein Jahr älter als ich ist, in einer Kneipe wieder. Manchmal hatten wir als Kinder im Hinterhof mit meinen Actionfiguren gespielt. Ich wusste damals schon, dass er die meisten Schläge einstecken musste. Wir setzten uns zusammen, tranken ein paar Bier, später lud er mich sogar ein, was mich etwas verlegen machte, aber er bestand darauf zu bezahlen, er hätte jetzt eine eigene Wohnung und verdiene etwas Geld. Er erzählte mir von seiner großen Leidenschaft, dem örtlichen Fußballverein und obwohl ich nicht unbedingt mitreden konnte, hörte ich ihm zu. Er war schon stark angetrunken, seinen Schnaps lehnte ich höflich, aber bestimmt ab. Aggression strahlte aus seinen Augen, aber mir gegenüber blieb er friedlich. Er kam auf seine Eltern zu sprechen, wie sehr er sie hasste und was er am liebsten mit ihnen machen würde. Er starrte dann wortlos in sein Bierglas. Mit einem Male sah ich den brilletragenden Jungen mit der Zahnlücke vor mir, der in die Sonne blinzelte und dann erschrocken herumwirbelte, als ihn seine Mutter vom Fenster aus anschrie. Mit einem Räuspern entschuldigte ich mich und sagte, ich müsste jetzt nach Hause gehen. Er nickte nur. Vor der Kneipe legte ich meinen Schal um, klappte den Kragen hoch und schritt eilig voran, während mir der kalte Wind ins Gesicht wehte. An den Straßenrändern lagen noch zusammengeschrumpfte, verdreckte Schneehaufen und weder vor mir noch hinter mir waren Menschen zu sehen. Die an einem zwischen den gegenüberliegenden Häusern gespannten Drahtseil angebrachte Laterne wurde vom Wind hin und her gestoßen, so dass die Schatten an den Fassaden zu tanzen schienen. Der Schatten verschluckte mich. Der graubraune Putz bröckelt auch heute noch, das Plumpsklo ist immer noch außerhalb und im Winter friert man sich den Arsch ab. Im Hinterhof riecht es säuerlich nach Pisse und unter den alten Steinplatten, aus deren Fugen das Unkraut wuchert, verstecken sich immer noch Kellerasseln, die sich bei der kleinsten Bewegung in alle Richtungen zerstreuen. Die Kaninchenscheiße klebt immer noch an den Holzplatinen und auch das Gelärm von Streitereien wird sich nicht ändern. Es gibt Orte, an denen sich nie etwas ändern wird. Es gibt Menschen, die nicht die Chance zu höherer Bildung hatten und deren Hoffnungen und Träume schon vor Jahren gestorben sind, allein, zusammengekauert in den grauen engen Windungen des Verstandes. Menschen, die nicht einfach mal so an jeden beliebigen Punkt der Welt fahren können, nur weil es ihnen gerade so passt oder um sich die Zeit nett zu vertreiben. Trink, trink, nur das Oettinger statt des Cocktails, trink, trink, vergiss das Malochen, morgen ist Schluss.
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von einem hier der das geschrieben hat warum fliegst du nicht mehr du toter vogel vorsingen