Morgens in der Uni bei einer Archäologievorlesung
Morgens in der Uni bei einer Archäologie-Vorlesung
7Uhr 30. Der Wecker klingelt. Das ist aber auch egal, da die Dachdecker bereits seit einer halben Stunde mit monströsen Werkzeugen auf dem Dach rumklopfen und gelegentlich, das heißt alle zehn Minuten, Bierpausen machen. Hinzu kommt, dass die scheiß Elstern bereits 5 Uhr morgens anfangen zu krächzen, ein Königreich für ein Luftgewehr. Im Flur schwebt der modrige Gestank der auf der Decke flanierenden Schimmelpilze, auch zwei richtige Pilze mit Stiel und Hut haben sich zu ihnen gesellt, den größeren von ihnen haben wir Karlchen genannt. Das Toilettenpapier ist mal wieder ausgegangen und die Plünderungen auf den Toiletten im Erdgeschoß und zweitem Stock lohnen sich auch nicht mehr, so bleibt nur das Warten auf die Putzfrau als einzige Möglichkeit. Die liebe Frau, die auch immer dafür sorgt, dass unsere Diele schön gewischt ist, deckt uns nämlich mit diesem wichtigen Hygieneartikel ein. Frühstück fällt ja sowieso flach, da die Kaffeemaschine noch nicht desinfiziert wurde, nachdem ich für zwei Wochen, während ich im Urlaub war, den benutzten Filter herauszunehmen vergaß und sich eine Schimmelkruste bildete, die der im Flur wuchernden durchaus ernsthafte Konkurrenz machen könnte. In der Küche sah es nicht viel besser aus und das seit Monaten. Ich traue mich nicht mehr den rechten Kühlschrank zu öffnen, ähnlich wie ein kleines Kind, das vor dem Schlafen nachsieht, ob ein Monster im Schrank hockt. Die Nahrungsmittel mancher, vielleicht schon vor Jahren ausgezogener Mitbewohner haben mittlerweile archäologischen Wert und nachts dringen Waschbären und Füchse in unsere Küche ein und durchforsten die Mülltonnen. Neulich musste ich einen Elch mit dem Besen verjagen, das Vieh fraß alte Kartoffelschalen, die irgendjemand in den Gelben Sack geworfen hatte. Ich zünde mir eine Zigarette an und nach drei Zügen merke ich, warum ich eigentlich nicht mehr rauchen wollte. Der blaue Rauch steigt zur Zimmerdecke auf, wo er sich durchwirbelt und schließlich auflöst. Im Hinterhof sieht man mal wieder alte Männer, die in den Müllbehältern nach Pfandgut suchen und sich sichtlich über jede gefundenen acht Cent freuen. Kein Wunder, dass ihre Funde so marginal bleiben, verstauen wir doch unser eigenes Pfandgut in einem vom Supermarkt geklauten Einkaufswagen. Nach sechzehn Jahren CDU, knapp acht Jahren Rot-Grün und jetzt Angelas Regime beziehungsweise Regierung, das liegt im Auge des Betrachters, sieht man, was aus einer der führenden Industrienationen geworden ist: Eine Gemeinschaft aus Jägern und Sammlern, die sich durch allmorgendliche Streifzüge über die verlassenen und von leeren Becks-Flaschen bedeckten Vergnügungsmeilen der Betonmetropole, stets mit wachem Auge, kein verwertbares Stück Müll übersehend, ein paar Cent zum auf das Existenzminimum hinabgeschrumpften Hartz-IV-Geld hinzuverdienen will. Die Ansagen vom S-Bahnhof wiederholen sich periodisch. Zug nach Spandau. Einsteigen bitte. Spandau zurückbleiben bitte. Zug nach Charlottenburg. Einsteigen bitte. Charlottenburg zurückbleiben bitte. Die selbe Monotonie und das täglich. BVG-Ansager zu sein muss einen zwangsläufig fertig machen. Nach zwei Wochen fühlt man sich wie ein Papagei, stumpf auf das Wiederholen der ewig selben Floskeln reduziert. Im Zwei-Minuten-Takt. Das Bayer-Logo und das Mercedes-Zeichen ragen stumm aus den Hochhäusern zwischen Zoo und Breitscheidplatz heraus. Der Ku'damm als das Zentrum des Kapitalismus. Hier wird bedient, wer es sich leisten kann. Eine Kugel Eis für einen Euro. Zum Vergleich, es waren früher fünfzig Pfennig. Aber fünfzig Pfennig passen nicht in die Welt von Lacoste und Dolce&Gabana. Obwohl die Ladentüren offen stehen, fühlt man sich unwillkommen, so lange man nicht in der Lage ist, tatsächlich etwas zu kaufen. Und eigentlich will man da auch gar nicht rein. Aber neugierig ist man schon. Doch lieber zur U-Bahn, Richtung Neukölln, da wo man sich noch etwas leisten kann, Döner für einen Euro oder so. Macht auf jeden Fall mehr satt als ein Eis von Mövenpick zum selben Preis. Und danach in die Mittagssonne auf eine Bank mit zwei Sternburg oder Pilsator an den Hermannplatz. Bei McD noch einen Cheeseburger geholt, auch für 'nen Euro. Schon komisch, was man mit einem Euro alles machen kann. Manche investieren und schlagen daraus Millionen. Ich will nicht mal unbedingt Millionen. Nur was Warmes zu essen im Bauch und ab und zu ein schönes kaltes Bier. Mehr braucht man auch nicht. Noch eine verständnisvolle Frau und ich könnte auch in einer Mülltonne wohnen wie dieser Grieche da. Oder der Typ aus der Sesamstraße. Obwohl, das wäre vielleicht wegen des Gestanks problematisch. Aber alles Gewöhnungssache. Schlimmer als Schimmel im Hausflur kann es ja auch nicht sein. Stellen Sie sich vor, Sie haben ein fettes Auto, lauter Luxusartikel in Ihrem Haus und eine Yacht und alles wird Ihnen gestohlen. Sie heulen Ihren Statussymbolen hinterher, ist ja auch klar, war ja auch teuer der ganze Krempel. Aber wenn Sie nichts haben, können Sie auch nichts verlieren. Und dann erfreut man sich auch wieder an kleenen Dingen: Sonnenschein, Krokusse, 'ne frische Mettschrippe und das allmorgendliche Frühstück aus Kaffee und Zigarette. Seltsamerweise sitze ich im Moment am Hausvogteiplatz in einem Gebäude der Uni in einer Vorlesung zur Archäologie. Jungpaläolithische Kunst in Europa. Warum eigentlich? Die Dozentin zeigt schöne Fotos von Höhlenmalereien und von in Stein geritzten dreieckigen Fruchtbarkeitssymbolen. Jedes Dreieck stellt eine Vulva dar, so lautet der Forschungsstand. Die Höhlenmenschen haben, wie die Fotos und ausführlichen Vermessungen der Höhlen und Grotten ergeben haben, sehr viele Dreiecke gemalt. Ich unterstelle unseren Vorfahren, dass nicht jedes Dreieck einen rituellen Zweck verfolgen sollte. Manches Kunstwerk entstand auch bestimmt aus Jux und Tollerei. So wie sich präpubertäre Jungs im Unterricht gerne mal gegenseitig schweinische Sachen auf den Hefterrand malen, wenn die Hormone mal wieder Wellen schlagen. Ich überfliege das eben Geschriebene und überlege, ob es in irgendeinem Bezirk Berlins auch eine Sesamstraße gibt, in der die menschlichen Bewohner Namen wie Samson oder Tiffy oder Krümelmonster tragen. Mir ist langweilig. Meine Gedanken drehen sich schon um das Mittagessen, die Auswahl ist ja Gott sei Dank reichlich. Es gibt da diese eine Curry-Bude an der Friedrichstraße mit sehr preiswerten Speisen. Aber jeden Tag Curry-Wurst oder Boulette ist auch nicht gut. Ich sollte mir mal wieder die Haare schneiden lassen, ich seh ja kaum noch etwas. Vielleicht fahr ich auch gleich zum Europa-Center am Breitscheidplatz, da kostet der Schnitt nur zehn Euro und die Friseusen schweigen während der Prozedur anstatt irgendwelchen belanglosen Small-Talk anzufangen. Ist mir lieber so. Ist denn die Vorlesung immer noch nicht vorbei? Ich könnte ja auch schon einmal meine Einkaufsliste vorplanen, im Supermarkt verlaufe ich mich entweder oder ich vergesse das Wichtigste, verpeilt wie ich nun mal bin. Am Ende kaufe ich ja eh immer das Selbe. Ist das schon Spießer? Oder aus ökonomischen Gründen vernünftig, weil man bei Überfluß sowieso die Hälfte wegwirft. Schade nur, dass nachher jeder öffentliche Platz mit Touristen überschwemmt sein wird. Da steht sie dann, die typisch deutsche Familie mit Elternpaar, Tochter und Sohn und den Großeltern, mitten auf der Aufstiegstreppe zur S-Bahn im Weg herum und starrt mit offenen Mündern staunend und ungläubig nach oben auf den Fahrtanzeiger, um herauszufinden, in welche Richtung es nun zum Alexanderplatz und zum Fernsehturm geht. Ist ja an sich nicht weiter schlimm, man hilft ja auch gern mal weiter. Nur ist es überaus belastend, wenn der Familienvater just in dem Moment, wenn man es sowieso schon eilig hat und den gerade stehenden Zug noch erwischen will, auf die Idee kommt, seinen Falk-Stadtplan über die ganze Breite der gesamten Treppe aufzuschlagen und sich auf die Zunge beißend mit dem Finger den Bezirk Mitte abfährt, obwohl ein kleines Sehenswürdigkeitensymbol den momentanen Auffenthaltsort des Fernsehturms schon auf den ersten Blick verrät. Drängeln und Vorbeischleichen bringt nichts, denn der Familienvater schwenkt seinen Plan immer auf die Seite, auf die man gerade ausweichen will. Auf ein deutliches Räuspern dreht er sich nur kurz um und versinkt dann wieder in die Karte, nur dass er durch die Störung vergessen hat, wo er gerade war und deshalb von vorne anfängt. Die übrigen Familienmitglieder bilden eine dichte Mauer und man hört nur noch die losfahrende S-Bahn und denkt sich: Scheiß Touristen! Wenn man am Bahnhof noch rauchen dürfte, könnte man sich wenigstens die Wartezeit verkürzen. Jetzt eine Zigarette. Ich bin ja immer noch im Seminarraum und die Ausführungen über Mammut-Fresken und Jagdbilder prallen heute irgendwie von mir ab. Ein Blick nach vorn bringt endlich die Gewissheit, dass die Dozentin kurz vorm Ende ihres Vortrags steht. Auch sie scheint schon innerlich aufzuatmen. Sie verabschiedet sich. Auf einen Schlag springen alle auf und greifen instinktiv nach ihren Taschen und Rucksäcken. Einpacken. Zögernd noch vor dem Gebäude stehend. Was tun? Ach was solls, bis zur nächsten Vorlesung sind es immerhin vier Stunden, da kann man sich schon mal getrost für einen Nickerchen verabschieden. Die Dachdecker machen bestimmt eh gerad eine lange Mittagspause und jede Elster, die es wagt mich aufzuwecken, wird mit Kronkorken torpediert, Tierschutz hin oder her. Den Viechern gehört der ganze Tiergarten, also warum zur Hölle müssen die ausgerechnet vor meinem Fenster sitzen? Darüber werde ich einmal gründlich nachdenken müssen. In der nächsten Vorlesung. |