Als ich einmal fast Arzt wurde
Robin Hoffmann Als ich einmal fast Arzt wurde aus dem Buch „Schundliteratur“
Wie bereits an anderer Stelle erwähnt, hatte ich zusammen mit Matze eines Tages die Idee, als Ärzteduo ohne Zulassung zu praktizieren. Abgesehen davon, dass wir, als wir zusammenwohnten manchmal nur Brechbohnen aus dem Glas zu essen hatten und das Geld daher dringend benötigt hätten, brachte uns vor allem der Zivildienst im Krankenhaus auf solche Gedanken. Es regte uns tierisch auf, dass Assistenzärzte, die zu blöd waren, ihr Frühstücks-Knoppers zu öffnen, an lebenden Menschen herumschnippeln durften. Wir fragten uns, wie es zur Einstellung dieser grobschlächtigen Fleischhauer gekommen sein muss. Und irgendwann fanden wir Parallelen zu den sogenannten Neulehrern in der DDR. Nach dem Krieg gab es dort sowieso Mangel an Arbeitskräften und noch größeren Bedarf an qualifizierten Fachleuten. Von den kompetenten Lehrern wurde der Großteil als faschistisch aussortiert, abgesondert und in Arbeitslager gebracht, zum einen, weil es wirklich Faschisten waren, zum anderen aber auch, wenn sie einzig und allein nicht genügend sozialistisch indoktriniert waren. Also half man sich anders aus. Die SED-Talentscouts suchten in Städten und Dörfern nach linientreuen und aufbauwilligen Sozialisten, ganz gleich, welchen Beruf sie eigentlich ausübten. Dann klingelten sie eines Abends beispielsweise bei Heinz, der zwar Schlosser war, aber die Internationale singen konnte: „Hallo Heinz, wie geht’s dir? Sag mal, haste nicht Lust, Lehrer zu werden? Kriegst 500 Ostmark im Monat!“ „Och ja, wieso eigentlich nicht?“ „Na prima, hier haste Kreide und ein Buch. Morgen um 8°°Uhr fängste an.“ Und damit war die Lehrerausbildung abgeschlossen. So ähnlich mag es sich beim ach-so-sparsamen Krankenhaus abgespielt haben. Beim Schwimmen in seinem Geldspeicher kam dem Direktor bestimmt die Frage auf, wie er noch mehr Geld einsparen könnte. Chirurgen wollen immer so viel Geld? Das kann doch auch jemand anders machen. Also schickt er seinerseits seine Talentscouts aus, die dann eines Abends bei wildfremden Leuten klingeln und fragen: „Hallo. Sag mal, hättest du nicht Lust, Arzt zu werden?“ Worauf sich der junge, bis eben gerade arbeitslose Mensch freut: „Na klar, Mann! Auf jeden Fall!“ „Gut, hier haste `nen weißen Kittel und ein Stethoskop, morgen fängste an.“ Das kann eigentlich nur so abgelaufen sein. Und wenn die das können, dann können wir das schon lange. Da wir beide in Deutschland sehr oft vergebene Nachnamen tragen, war es unsere Idee, einfach die Arztkittel eines Herrn Dr. M. und eines Herrn Dr. H. zu entwenden, dann einen phantasievollen und spannenden fiktiven Lebenslauf zu erfinden und nach ein paar Staffeln Emergency Room, Grey`s Anatomy und Scrubs hätten wir auch über die für diesen ernsten Beruf benötigte Fachkompetenz verfügt. Mit dem durch diverse Versicherungsbetrügereien erstandenen Geld hätten wir irgendwo in der Uckermark, im Vogtland oder in Schwäbisch Gmünd eine Kleinstadtpartnerpraxis eröffnet und einen ehrlichen, gesellschaftsnützlichen Beruf ausgeübt. Wenn Matze Trabbis und Wartburgs reparieren kann, wieso dann nicht auch Menschen, so ein großer Unterschied ist das ja nun auch wieder nicht. Vielleicht hätte er im Hinterhof der Praxis eine kleine Werkstatt eingerichtet und zwischen Herz-OPs und Geburten mal eben so zwischendurch einen Öl- und Reifenwechsel eingelegt. Und ich hätte mich mit äußerster Fürsorge und Hingabe dem Wohl meiner Patienten gewidmet: „Guten Morgen, Herr Doktor Hoffmann. Wie schön, dass Sie Zeit für mich haben.“ „Aber das ist doch wohl selbstverständlich, Herr Pochronski. Warten Sie, ich bringe nur schnell den Teller mit den Steakresten fort.“ „Der Herr Doktor Müller ist wohl wieder sehr beschäftigt, wie?“ „Ja, Sie wissen ja, der Herr Müller und seine osteuropäischen Autos. Aber der peppelt die alle wieder auf. Ein hervorragender Chirurg und Mechaniker. Gestern haben wir so einen verbeulten Lada reingekriegt, stellen Sie sich vor, da war im Kofferraum doch tatsächlich noch eine Leiche drin. Mit der Blechschleuder beschäftigt er sich gerade, weshalb ich ja auch die Sprechstunde übernehme. Außerdem haben wir beide jeder drei Bier getrunken und da ist er schon ein bisschen müde geworden.“ „Sie trinken während der Arbeit?“ „In Maßen, Herr Pochronski, in Maßen!“ „Vielleicht sollte ich ja doch andern Tags wiederkommen.“ „Jetzt beruhigen Sie sich mal und sagen mir nicht, wie ich meinen Job zu erledigen habe. Wo drückt denn der Schuh?“ „Also, ich bin neulich bei der Gartenarbeit gestürzt und habe mir tüchtig den rechten Unterarm samt Ellenbogen geprellt. Gebrochen ist es ja nicht, aber schmerzlich ist halt schon, wissen Sie?“ „Hm, hm. Herr Pochronski, das haben wir gleich. Ich such noch schnell mein Stenograph und dann horch ich Sie erst einmal ab.“ „Aber der Ellenbogen….“ „Noch mal, Herr Pochronski, sagen Sie mir nicht, wie ich meine Arbeit zu erledigen hab. Ich schreib Ihnen doch auch nicht vor, wie Sie ihre Bohnsträucher gießen müssen, oder?“ „Doch, letzten Monat haben Sie das gemacht. Sie haben gesagt, Herr Pochronski, wenn Sie sicher gehen wollen, nehmen Sie…“ „Ach, was interessiert mich mein Geschwätz vom letzten Monat. Ich horch Sie erstmal ab. Hm, hm…Oh, das klingt gar nicht gut. Ganz und gar nicht. Ich geh mal kurz zum Fenster, ich denke, dass der Herr Müller mich da draußen über den Hof hören kann………HEY! Du, Herr Müller, kannste mal kurz herkommen?“ Über den Hof wurde zurück geschrien: „Nee, ich kann grad nich. Komm du doch her, wenn du was willst, fauler Arsch!“ „Matze, du bist ein scheiß Chirurg, ein richtiger scheiß Chirurg. Als du damals aus Versehen das alte Stück Pizza in Herrn Händles Bauch eingenäht hast, wer hat dich da aus der Scheiße geholt, häh?!“ „Leck mich doch, Robsen, wer hat dich denn aus der Scheiße gezogen, als du 48 Stunden lang nicht geschlafen hast und statt einer Natriumchloridlösung fast eine Salzsäureinfusion gelegt hättest, häh?!“ „Äh, Herr Pochronski, hören Sie da einfach nicht hin, der Kollege ist betrunken, ich schließ das Fenster mal lieber wieder. Nun zurück zu ihrem Knie….“ „Ellenbogen, Herr Doktor Hoffmann, es war der Ellenbogen.“ „Sie täuschen sich, Herr Pochronski, in 98% aller Fälle sind Ellenbogen und Kniescheibe vom selben Virus befallen.“ „Aber, seit wann denn Virus?“ „Das werden wir gleich feststellen. Gehen Sie zu Schwester Irmchen ins Nebenzimmer und geben Sie erstmal eine Stuhlprobe ab. Dann würde ich Sie bitten, den Herrn Doktor Müller in seiner Werkstatt aufzusuchen, denn dort bewahren wir auch die größeren Untersuchungsdingsbums auf. Er wird dort vorsorglich eine Dualyse bei Ihnen durchführen. Entschuldigen Sie, ich öffne noch mal kurz das Fenster……..MÜLLER?“ „Jaaa?“ „Einmal Dualyse beim Herrn Pochronski. Aber dalli!“ „Das heißt Dialyse, du Vollhorst!“ „Hören Sie nicht hin, mein lieber Herr, der redet viel, wenn der Tag lang ist. Aber jetzt genehmigen wir uns erstmal einen Wodka auf Ihr Wohl, wa, Herr Pochronski? Prost!“ „Aber muss ich denn nicht zur Untersuchung?“ „Ach so, ja…Pech gehabt, nix für Sie, zwei für mich.“ „Bei allem Respekt, Herr Doktor Hoffmann, aber Sie wollen hier und jetzt in ihrer Praxis vor meinen Augen trinken?“ „In Maßen, Herr Pochronski, in Maßen! Sie müssen aufhören zu denken, dass alle Ärzte so zimperlich wären wie Doktor Stefan Frank. Außer den Frauen schöne Augen machen konnte der doch nichts. Wobei Matze, ich meine natürlich Kollege Müller, den Verdacht hatte, der wäre vom anderen Ufer. In unserem Berufsstand muss es wieder Leute geben die anpacken. Meinen Sie etwa, die Rote Armee hätte früher Anästhesisten dabei gehabt? Nee, wenn da ein Militärarzt selber `ne Kugel mit dem Schienbein abgefangen hat, dann hatte der auch nur mal kurz den Wodka angesetzt und sich dann eigenhändig den Unterschenkel mit einer rostigen Laubsäge amputiert. Und da konnte der nebenbei noch ‚Katyusha‘ singen. Alle Strophen. Aber Herr Pochronski, Sie sehen auf einmal so blass aus? Wollen Sie nicht doch ein Gläschen? Ich gestatte es Ihnen, vertrauen Sie ihrem Arzt. Wissen Sie was, wir machen vor der Dualyse noch eine Darmspiegelung, wenn Sie da jetzt ein wenig bechern, dann können wir dann nachher auch die Narkose weglassen. Der Wodka hier, echter Uranov, ist genauso gut wie eine herkömmliche Narkose und zudem noch viel, viel billiger. Sie glauben ja gar nicht, wie teuer der ganze Medizinbedarf wäre, wenn nicht einmal in der Woche unser Freund Grasnik mit rumänischer Ausschussware vorbeikommen würde. Und nachher bei der Dualyse wird sowieso ihr Blut gereinigt, dann sind Sie so oder so wieder nüchtern und die liebe Gattin merkt auch nichts.“ „Vielen Dank, Herr Doktor Hoffmann, aber ihre Methoden sind mir doch ein wenig unkonventionell. Ich werde doch lieber einen Arzt aufsuchen, der meine Ellenbogenprellung ernsthaft behandelt.“ „Wie Sie meinen, viel Glück. 80% aller heutigen Medizinstudenten werden später einmal mehr oder weniger wie ich praktizieren. Die trinken dann notfalls auch mal Formalin, wenn es nichts anderes gibt.“ „Sie meinen also, ich kann niemandem mehr trauen?“ „Nur mir, Herr Pochronski, nur mir. Ich will nur ihr Bestes, das verspreche ich Ihnen. Der gesellschaftliche Status, das viele Geld, die Gratisgolfstunden und die vielen Praktikantinnen…alles schnurzpiepsegal. Wissen Sie, viele werden Ärzte aus eben diesen Gründen. Oder weil das so schön im Lebenslauf und auf dem Bronzeschild vor der Praxis aussieht. Oder weil Mami und Papi auch schon Ärzte waren und man dann der Familienlinie treu bleiben muss. Der Herr Müller und ich, wir sind beide aus der Arbeiterklasse, bodenständig, aber verlässlich. Und wir haben nicht einmal ein Bronzeschild. Wir machen das aus rein humanitären Zwecken und zum Wohle der Menschheit. Wenn Sie, mein lieber Herr Pochronski, an meinen Methoden zweifeln: Ich kann Sie nicht hindern, zu gehen. Aber wenn Sie bleiben, dann wissen Sie, dass ihr Leben in den Händen von Leuten liegt, denen es nicht um ihr Geld, sondern um ihre Gesundheit geht…Prost!“ „Na, wenn das so ist, Herr Doktor Hoffmann, dann bleibe ich. Aber Sie werden doch verstehen können, dass ihre Methoden schon sehr unkonventionell, ich meine: besorgniserregend klingen, nicht wahr?“ „Glauben Sie mir, Herr Pochronski, alles seriös.“ In diesem Moment kam Herr Doktor Müller in die Praxis. Aus seinem Gesicht sprach ein leicht ermüdeter Ausdruck und auf der Wange und auf seinem Arztkittel waren deutliche Ölflecken zu sehen. Beim Betreten des Sprechzimmers kratzte er sich den Kopf, nickte kurz Herrn Pochronski zu und ließ dann den Blick über die mit Medikamenten und Medizinbedarf gefüllten Schränke gleiten, bis er schließlich fand, was er suchte: „Ach hier hast du das hingelegt. Ich hab die Dinger doch schon überall gesucht. Ich frag mich, was die Bremshydraulikschläuche Marke ‚Opel‘ hier in der Praxis zu suchen haben, Robsen?“ „Bremshydraulikschläuche? Herr Müller, du irrst dich. Das sind Schläuche für die Magenspiegelung, für die Gastroskopie!“ „Nein, definitiv nicht. Schau doch mal auf die Verpackung: Da steht eindeutig ‚Bremshydraulik‘! Daneben ist sogar noch ein ’Opel‘-Zeichen aufgedruckt. Sag bloß, du wolltest die verwenden?“ „Aber nein…natürlich nicht…ich habe die nur hier abgelegt.“ „Mensch, Robsen, und mich nennst du einen inkompetenten Arzt?“ „Matze, nicht hier vor dem Patienten…reiß dich zusammen!“ „Herr Pochronski, wissen Sie eigentlich, was der noch so verbockt hat?“ „Matze, langsam reicht es aber.“ „Der gute Herr Hoffmann hat sich doch tatsächlich beim Nähen nach der OP bei Frau Salinger anlässlich seiner 100.Operation mit den Worten ‚Hundertmal ist`s gut gegangen, mitgehangen –mitgefangen. Gezeichnet: RH‘ auf ihrer Bauchdecke verewigt. Immer wenn die arme Frau ins Freibad geht, wird jeder diesen Spruch lesen können. Eine Sauerei ist das.“ „Ach Matze, eine Sauerei ist das? Wie war das denn damals als du angetrunken im Rettungswagen auf dieser Landstraße unterwegs warst und das Auto, das du gerammt hattest, sich überschlug und in Flammen aufging und du rein zufällig ohne vorherigen Notruf als erster, in Anführungszeichen „Arzt“, am Unfallort warst? Das war wohl keine Sauerei?“ „Herr Hoffmann, wir können gerne mal vor die Tür gehen.“ „Ja, Herr Müller, das können wir.“ Und so ließen wir den armen, bisher unbehandelten Herrn Pochronski allein im Sprechzimmer sitzen, bis er sich angesichts der Kampfszenen und Beleidigungen aus dem Hinterhof schließlich dazu durchringen konnte, die Polizei zu rufen. Und die kam dann auch, zusammen mit einem Krankenwagen. Weil die Schlägerei dann im Krankenwagen weiterging und zwei Rettungssanitäter in Mitleidenschaft gezogen wurden, droht Matze und mir nun ein schwerwiegender Prozess, unter anderem in den Punkten fahrlässiger Betrug, Verstoß gegen etliche Hygienevorschriften, Körperverletzung und Beamtenbeleidigung. Wir hoffen, dass wir uns unbemerkt in die etwas liberalen Niederlande absetzen können, um weiterhin unserem medizinischen Handwerk zu frönen, da man dort ja eh nicht alles so genau nimmt. Aus Gründen der Tarnung tragen wir nun selbst bei den Sprechstunden schwarze Sonnenbrillen und Schnurbärte und praktizieren unter den Namen Tito Muerte und Sancho Panchez. Jederlei Verbindung mit etwaigen lebenden Personen wird hiermit abgestritten. Viva la revolution, ariba! Herr Pochronski hat nach unseren Informationen den Hausarzt gewechselt und wurde, wie er in einem geheimen, an uns gerichteten Schreiben mitteilte, bestens und überkompetent betreut. Zwei Wochen später verstarb er eines mysteriösen Todes und selbst sein neuer Hausarzt blieb ratlos. Bei einer Obduktion stellte man fest, dass Herr Pochronski an einem seltenen Virus litt, das erst die Ellenbogen und dann die Kniescheiben befällt bevor es schließlich zu einem schmerzhaften Tod durch Kotstau führt. Sein neuer Hausarzt hatte nie davon gehört. Und da soll noch mal einer unsere Kompetenz anzweifeln.
|