Alle Jahre wieder
Alle Jahre wieder
Der Osterhase sah auf die Uhr über der Bar. Es war 23.¹¹Uhr. Da kam auch schon der W-Mann zur Tür herein und setzte sich zwischen ihn und Lenin. Die Kneipe war fast leer. „Einen doppelten Wodka, aber pronto!“, sagte er, worauf der Osterhase ihn mit zusammengezogenen Augenbrauen fragte: „So früh schon fertig?“ Der W-Mann trank den W-O-D-K-A mit einem Hieb aus und rief: „Heiligescheißegottverdammterdrecksmist.“ Das sagte er immer, wenn er einen schlechten Tag hatte. Dann wandte er sich dem Osterhasen zu und jaulte: „Mit der Schicht für Heiligabend bin ich fertig, aber in zwei Stunden muss ich auch schon wieder die Geschenke in den USA, Großbritannien und Australien verteilen. Noch einen Wodka bitte.“ Der Osterhase rümpfte die Nase und sagte dann verächtlich: „Und da betrinkst du dich jetzt? Du musst doch noch fahren und außerdem hast eine gesellschaftliche Vorbildfunktion. Wenn die Kinder nicht mehr an dich und deine Ideale glauben, fangen sie an Killerspiele zu spielen und ihre Lehrer zu erschießen und Drogen zu nehmen. Du förderst damit den Zerfall unserer Zivilisation.“ „Jetzt reg dich mal bloß ab, wa? Das tut eh nix zur Sache. Ich weiß gar nicht, wieso ich den ganzen Schwindel überhaupt noch mitmache. Ich bin doch nur die Werbefigur einer amerikanischen Softdrink-Firma, die den Eltern hilft ihre unmündigen und naiven Kinder zu verarschen, da Mami und Papi, wenn sie ihre Bälger in dem Glauben lassen, dass der große W-Mann vom Nordpol alles sieht, was die Kleinen so für Scheiße bauen, ihre elterliche Kontroll-, Straf- und Schimpfinstanz an mich abtreten können. Die kleinen Scheißer haben dann tüchtig Angst vor mir und ich muss notfalls den Bösen spielen. So eine Scheiße echt aber auch! Da sagen die übermoralischen Eltern ihren Kindern tagein, tagaus man soll nicht lügen und dann schwindeln sie ihnen selbst jahrelang etwas vor, nur um einen Trumpf in der Hinterhand zu haben und den Kleinen kurz vor Weihnachten noch einmal gehörig einen Schrecken einzujagen: Pass ja auf, was du tust und sagst, das sieht alles der W-Mann und dann bringt der dir eine Rute und blablabla. Hase, du bist doch selbst nur ein Produkt, um zu einem christlichen Feiertag möglichst viel Schokolade und Eier ans Volk zu verscherbeln. Siehst du? Wir sind alle nur Sklaven der Wirtschaft.“ Lenin hatte indessen eifrig gelauscht. Der W-Mann fuhr fort, nachdem er noch einen Wodka getrunken hatte. „Das ganze System ist nur aufgebaut auf Lügen und Profit. Und wenn sie zu alt sind, um die Weihnachtslügen zu schlucken, können wir sie meist schon mit Alkohol und Tabak ködern. Sie bleiben gebunden. Ein Hoch auf den Kapitalismus! Prost! Apropos Alkohol: Es ist mir egal, was du sagst. Wenn du dir 24 Stunden lang von Millionen von Kindern Weihnachtslieder vorsingen lassen musst, liegen dir nun mal die Nerven blank. Du betrinkst dich doch gerade selbst, oder?“ Der Osterhase schaute tief ins Glas und murmelte: „Ich habe aber auch bis April Zeit, um wieder nüchtern zu werden.“ Die beiden schwiegen kurz, drehten sich dann zu Lenin um und fragten ihn: „Wie lange musst du denn noch warten?“ Leise seufzte er: „Bis Oktober. Wenns gut läuft.“ Dann zerbrach er wieder Salzstangen und legte sie so zusammen, dass sie Buchstaben und Wörter bildeten. Auf der Theke stand geschrieben: >Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.< Der W-Mann las den Satz und klopfte Lenin auf die Schulter: „Hey, das ist gut. Merk dir das oder schreib es dir auf, ich bin sicher, das kannste irgendwann noch mal verwenden.“ Dann schluckte er kurz und bestellte noch einen Wodka. Einen doppelten. Und noch einen. Und noch einen. Und noch einen. Und noch einen. Und einen Tequila. Mit Salz ohne Zitrone. Und noch einen Wodka. Und noch einen. Dann nur Salz. Schließlich überredete er den Osterhasen und Lenin, doch bitte mitzutrinken. Anfangs lehnten sie ab, später tranken sie bald mehr als der W-Mann. Und was der so alles hinterkippte, war schon beachtlich. Is halt trinkfest der Mann. Es war 1. Uhr. Der W-Mann kam von der Toilette zurück. Sein ganzes linkes Hosenbein war vollgepinkelt und er torkelte von Stuhl zu Stuhl zu seinem Stammplatz, an dem Lenin und der Osterhase schon „Verdammt ich lieb dich, ich lieb dich nicht“ sangen. Als sie den W-Mann bemerkten, fluchte der Osterhase: „Mensch, W-Mann, du hast es wirklich übertrieben. Musst du dich denn so besaufen?“ Der W-Mann lallte: „Weihnachten is bloß eima im Jahr und das ist gut so, du kleine sprechende Pantoffel. Hicks!“ Die eigentlich weißen, aber durch Dreck gelblich und grau gewordenen Haare lagen ihm fettig in dünnen Strähnen auf der Stirn und Schweiß perlte von seiner dicken, roten Nasenspitze. Der Osterhase wurde aggressiv: „Guck doch auf die Uhr, du dumme Sau. Du bist schon viel zu spät dran.“ Der W-Mann sah auf seine original am türkischen Strand erworbene Rolex, bestellte einen Wodka, trank ihn aus und rief: „Heiligescheißegottverdammterdrecksmist.“ Dann wollte er vom Barhocker aufstehen und brummte das Lied „Zu spät“ von den Ärzten. Und schon fiel er auf die Fresse. Lenin half ihm hoch, aber mit einem Ruck riss sich der W-Mann wieder los: „Nee, nee, Rotkäppchen. Des kannich ooch alleene.“ Er ging hinaus. Sobald er die Kneipe verlassen hatte, legte Lenin eine astreine Elvis-Imitation auf's Parkett und der Osterhase und der Barkeeper waren so begeistert, dass sie ihm 33minütige Standing Ovations gaben, aber das ist ja auch egal. Krachend ließ der W-Mann die Tür von außen zuknallen, gab allen Rentieren Frostschutzmittel zu trinken, steckte dem letzten Rentier den Zündschlüssel in den After, drehte ihn um und ließ mit der Kupplung den Schleifpunkt kommen. Dann flog er los. Über Bielefeld kam er in eine Verkehrskontrolle. Der jung-dynamische Wachtmeister Oskar Notgeil ging zum Schlitten und forderte den ratlosen und vor Trunkenheit halb schielenden W-Mann auf: „Guten Abend. Fahrzeuchkontrolle. Führerschein und Rentierpapiere, bittschön.“ Nervös wühlte der W-Mann im Handschuhfach, doch plötzlich fand er die Papiere. Stolz grinsend gab er sie dem Polizeibeamten. Dieser warf einen kurzen, aber intensiv geschulten Blick drauf und starrte dann den Fahrer an: „Wollen Sie mich verarschen? Das eine ist die Speisekarte einer Pizzeria und das andere ein Organspenderausweis. Haben Sie getrunken?“ Vor lauter Nervösität wurde dem W-Mann schlecht und er beugte sich aus dem Schlitten und kotzte dem Wachtmeister auf die Schuhe. Dieser rief entsetzt: „Ach du Scheiße. Wir machen einen Alkoholtest!“ Er gab dem W-Mann den Alkoholtester und als er reinblies, zeigte das Display ERROR an. Wachtmeister Oskar Notgeil kratzte sich den Kopf und sagte leicht verwundert: „Ich hätte schwören können, dass Sie sturzbetrunken sind. Naja. Das mit den Papieren lass ich heute mal durchgehen, weil heute Weihnachten ist. Aber morgen melden Sie sich unverzüglich bei uns, klar?“ Als Antwort ein Hicksen. „Gut, weiterfahren. Gutenabendundnocheineschönefahrt.“ Als der W-Mann wieder in der Luft war, trank er einen Schluck Gin aus seiner Feldflasche und setzte das Geschenkeverteilen fort. Es dauerte zwar etwas länger als sonst, aber im Endeffekt war alles in Ordnung. Am Morgen des 25.Dezembers war dann Bescherung. George W. Bush bekam einen Koran geschenkt, Mahmoud Ahmadinedschad hingegen eine Cowboy-Ranch zum Selberbauen. Jürgen Drews fand die Gesamtwerke von Jean-Paul Sartre und Schriften von Simone de Beauvier unter dem Weihnachtsbaum und Alice Schwartzer eine Jahresration von Hardcore-Porno-Heften mit dem selbstredenden Titel „Fat Chicks, Black Dicks“ auf dem Gabentisch. Blinzelnd hielten die Kaczinsky-Brüder eine Kiste mit Teletubby-Fan-Artikeln in den Händen, während Edmund Stoiber sich über einen Gutschein für einen Deutschkurs und Integration wunderte. Und der W-Mann erwachte mit einem phänomenalen Kater neben Guido Westerwelle. Gegen 12 Uhr Mittags war „Last Christmas“ von Wham schon zum dreißigsten Mal durch den Äther gesickert und irgendwo in einem westdeutschen Ortseingang lag ein großer Haufen unfallgeschundener Rentiere Straßengraben. Im Großen und Ganzen ein Weihnachten wie jedes Jahr. Alles Bestens also. |
Hey, das Heft habe ich auch (allerdings keine Jahresration). Jetzt weiß ich, wie das in meinen Bettkasten geraten ist.
Sehr postmodern-sinnrelativierend.
Ich hätte es aus der verkaterten Perspektive der Selbstanzeige auf der Wache am folgenden Tag geschrieben.