OttoOtto "Guten Morgen, meine Schöne!" Das sagte er jeden Morgen, und heute lächelte sie und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. Er streichelte ihre Haare und sie verharkte ihre Finger in seinen. Sie drehte sich auf die Seite und stürzte ihr Kinn mit der Hand, die noch frei war. Er lächelte und zeichnete mit den Daumen ihre Augenbrauen nach, dann ging er zur Nase über, bevor er das Grübchen in der Mitte ihres Kinns berührte und dieses mit den Spitzen seiner Finger leicht massierte. Sie lachte, küsste ihn und füllte ihren Brustkorb mit seinem Duft; Rasierwasser und Sonne. Sie sah in seine Augen und sie sah den jungen Soldat, während der alte Mann lächelte. "Entschuldigen Sie, darf ich wohl fragen, wie spät es ist?" Mathilde hatte heute schon 25 Mal die Uhrzeit angesagt und langsam ging es ihr auf die Nerven. Sie wischte mit einem Lappen die Theke ab und brummte, sodass sie es selbst kaum verstand: "Kurz vor, mein Herr. Sie sollten jetzt gehen." Ihr letzter Gast nickte und drehte sich zögernd zur Tür um. Mathilde hatte ihre Arbeit beendet und konnte ihr warmes, weiches Bett und ein Fußbad kaum erwarten. Hoffentlich gab es warmes Wasser. Der Fremde in schwarzem Regenmantel stand immer noch in der Tür, so als würde er auf irgendetwas warten, was ihm die Erlaubnis erteilen würde, zu gehen. "Entschuldigen Sie, mein Herr...", Mathilde verstummte, als er den Kopf anhob und lächelte, ohne seinen Mund zu benutzen. Solche Augen hatte sie noch nie gesehen! So weit und blau, so kalt und unschuldig. Er trat zwei lange Schritte vor und stand nun wieder mitten im Raum, der ihn wegen seiner plötzlichen Dunkelheit beinah verschluckte. Warum mussten die auch immer so pünktlich sein? "Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen…" Mathilde hob den Kopf, sah nichts außer schwarz. Sie drehte den Kopf der Stimme zu, die leise aber sicher klang. "Ich war schon lange nicht mehr hier. Da vergisst man solche...", er räusperte sich und Mathilde glaubte ein wenig Ironie in seinen Worten zu hören, die er nun nach kurzem Schweigen wieder in die Richtung ihrer Umrisse schickte: "... solche Einschränkungen leicht. Ich wollte Sie unter gar keinen Umständen von der Arbeit fernhalten. Falls dies jedoch der Fall ist, möchte ich mich in aller Form bei Ihnen dafür entschuldigen. ". Mathilde lächelte, erinnerte sich, dass die Dunkelheit dieses Lächeln zerstörte und stoppte ihre Mundwinkel: "Sie sollten aufhören sich fortwährend zu entschuldigen. Das ist nicht gut, gerade in dieser Zeit. Alle entschuldigen sich. Sie glauben, sie würden dadurch nicht auffallen. Aber gerade das ist es. Man spürt ihre Angst. Und das wirkt wie Blutgeruch. Sie werden suchen und suchen und suchen. Solange bis sie etwas finden..." Schweigen ist grausam Schweigen zeigt Respekt. Schweigen macht stolz. Diese Gefühle spürte sie plötzlich in sich, während des Wartens auf seine Antwort. Sie war schon kurz davor die Spannung zwischen ihnen aufzuheben, da sagte er, während seine Stimme immer lauter wurde: "Ich bin froh, dass ich wieder Angst haben kann und ich mich hoffentlich nie mehr dafür entschuldigen muss" Sie trat, nachdem er verstummte, hinter dem Tresen hervor und tastete sich durch das Schwarz. Nach kurzem Suchen stieß sie auf seine Schuhe und kurz danach gegen seinen Brustkorb. Sie suchte mit den Fingern die Knöpfe und als sie sie fand, zog sie ihm die Uniform vom Körper, ohne ein Wort an ihn zu richten. Sie spürte seinen Atem auf ihrer Haut; leicht alkoholgetränkt und faulig. Sie schämte sich dafür, erleichtert zu sein, dass es immer noch dunkel war. Plötzlich hielt er ihr Handgelenk und zog sie zu seinem Mund. Sie drehte sich heraus und stolperte ein wenig zurück. "Ich, ich werde sie waschen… ist sicherlich ziemlich schmutzig geworden, vom vielen Krieg und... Sie sind doch Soldat, nicht?". Er suchte mit den Händen den Tresen und stürzte sich darauf ab, bevor er antwortete: "Ja. Ich wollte Sie nicht…. ich habe Angst". "Ich weiß. Hoffentlich ist das Licht bald wieder da. Dann sieht alles wieder ganz anders aus und solange können Sie natürlich noch bleiben." Mathilde lächelte, diesmal sicher, dass er es trotzdem sehen konnte. Das Licht kam und er blieb. Sie mochte seine Stimme und seine Augen. Er mochte ihre Haare und Selbstsicherheit. Das sollte sich nie ändern. Nach einer wunderschönen Verlobungszeit folgte, ein Jahr nach Kriegsende, eine noch schönere Hochzeit. Drei Jahre später brachte Mathilde Elisabeth zur Welt, die kurzes schwarzes Haar und die gleichen Augen wie ihr Vater hatte, der die kleine Tochter mit Küssen auf der Welt empfing. Mathilde, ihr Mann und Elisabeth zogen Anfang der 50er Jahre nach Berlin, weil er dort eine Stelle in einem Elektrobetrieb annahm. Die kleine Familie war glücklich und lebte gut. Der Vater ernährte sie und machte manchmal Geschenke, auch wenn nicht Weihnachten oder ein Geburtstag anstand. Mathilde war glücklich; Hausfrau und Mutter. Genau im Trend der Zeit. Sie war froh, dass sie nicht mehr in der Kneipe in Brandenburg arbeiten musste und sogar in Berlin leben konnte. Nicht nur deswegen liebte sie ihren Mann und schenkte ihm zwei Jahre nach Elisabeth einen Sohn, der Oskar getauft wurde. Manchmal schämte sich Mathilde für ihr Glück. Es schien ihr aus einem sehr, sehr schlechten Liebesroman entsprungen zu sein. "Was hältst du von Paris, meine Schöne?". Mathilde hatte gerade noch einmal Kaffee aufgesetzt und schenkte ihrem Mann ein; die braune Flüssigkeit tropfte auf die Spitzentischdecke, vereinigte sich mit dem eingewebten Gesicht eines Engels, der nun einen braunen Rand um den Mund annahm, der sich unaufhaltsam ausbreitete, sodass die Hausfrau beim Anblick nicht wusste, ob sie vor Wut schreien oder gleich in Tränen ausbrechen sollte. Unsere Hausfrau stolperte vom Tisch, riss den hochmodernen, neuen Einbauschrank auf und kippte noch im Umdrehen ihrem Mann Speisesalz in den Kaffee, der lächelnd meinte, er nähme doch seinen Kaffee immer schwarz und sie zum Hinsetzen zwang, während er seine Frage wiederholte. Mode, Wein, Liebe, der Eiffelturm: in Hochglanzzeitschriften. Das war Mathildes Paris gewesen, während sie beim Frisör unter der Trockenhaube saß und sich den Luxus gönnte, ihren Haaren wieder eine Form geben zu lassen. Die Dreißigjährige empfand diese Besuche als Luxus und fühlte sich in Gesellschaft von Frauen, die abwechselnd über die Angewohnheiten ihrer Männer oder der Nachbarn lästerten, sich überflüssige Modetipps erteilten, als wären es Befehle und der Verstoß vollkommen undenkbar und selbstverständlich abzustrafen, oder sich über die fehlgeschlagene neue Pädagogik bei ihren Kindern austauschten, nicht besonders wohl. Sie kam trotzdem alle zwei Wochen, um sich unter die Trockenhaube zu setzen. Sie tat ihm einen gefallen damit, denn er wollte sie verwöhnen und sie ihn nicht enttäuschen, außerdem hatte sie auf diese Weise etwas Abwechslung in ihrem Alltag, denn es fiel ihr schwer Kontakte zu pflegen, selbstverständlich nicht zu ihrem Mann. " Meine Schöne, was hältst du davon? Paris, nur wir beide? Als Hochzeitsreise sozusagen." Er lachte sie an und sie fragte nach den Kindern. "Es ist doch nur eine Woche. Oskar schläft bei Tante Gertrud und Elisabeth geht für die Zeit zu ihrer Freundin Hildegard, deren Eltern sich sehr auf sie freuen. Sie ist doch schon groß, beinahe zwölf“. Obwohl sie sich Sorgen machte, wegen ihrer Reise, dem dafür benötigten Geld und dem Verbleib ihrer Kinder, stimmte sie schließlich mit Tränen in den Augen zu und freute sich auf die Reise und auch darüber, dass sie nächste Woche unter der Trockenhaube etwas zu erzählen haben würde, bei denen den Damen mit Sicherheit der Mund offen stehen bleibt. Sie erzählte nicht viel, als sie zurückkehrten, aber ihre Worte zeigten trotzdem die gewünschte Wirkung im Salon und Mathilde blickte zufrieden, da mit einem anderen Gefühl, in die Zeitschriften. Sie schloss die Augen, während sie las. Er lächelte: "Madame, haben Sie wohl geruht?" Sie schlug die Augen auf und spürte seine Finger auf der Haut ihrer Schulter. Als er sie nicken sah, küsste er sie lange und verharkte später glücklich seine Finger mit ihren, während er ihren Kopf auf seine nackte Brust drückte und ihr eine halb herunter gebrannte Zigarette in den Mund steckte. Der Eiffelturm, die Restaurants und Cafes waren nur Kulisse, damit sie ihren Kindern etwas erzählen konnten und natürlich dem Frisörsalon. Für Mathilde war Paris, das Knistern seiner Füße auf dem immer weißen Laken, während er mit ihren Zehen sprach, seine Hände auf der roten Überdecke, die auf der Suche nach ihren Fingern waren, um ihnen eine Geschichte in die Spitzen zu schreiben oder drei Zentimeter Tabak, mit dem er ihrer Lippen küsste. Seine Lippen wurden mit der Zeit blasser, aber das störte sie kaum, denn sie behielten ihre runde und weiche Form und jedes Mal, wenn sie unter der roten Überdecke auf seiner Brust lag, dachte sie die ersten fünf Minuten an Elisabeth und Oskar, die sie inzwischen zur Großmutter gemacht hatten. Er fragte sie jeden Morgen in dieser Woche, in jedem Jahr, ob sie gut geschlafen hätte. Und das immer auf Französisch. Dann spielten ihre Finger miteinander und sie küssten sich. Danach rauchten sie immer eine Zigarette. Irgendwann mussten sie auf die Zigarette und den ganz nahen Körperkontakt verzichten. Aber trotzdem flog sie mit ihm nach Paris. Später in Begleitung. Mathilde bezahlte einen diskreten, jungen Krankenpfleger, der gegenüber ihrer Tür ein Zimmer bezog und immer erreichbar war. Ein dumpfes Klopfen ließ ihren Körper herumfahren und sie rutschte beinahe von der Decke. Sie rieb sich mit den Händen das Gesicht und stöhnte leise auf. Draußen fragte die Stimme nach ihrem Namen. Sie konnte nicht antworten. Die Stimme wiederholte sich. Sie sagte etwas und vergaß es noch, als sie es auf ihren Lippen fühlte. Die Stimme fragte weiter. Mathilde fühlte sich schwach und nach ein paar Minuten öffnete sich die Tür. Das Mädchen sprang aufs Bett und lächelte. Elisabeth zog sie hinunter und gab ihr einen Klaps auf Handfläche und Hinterteil. Mathilde schüttelte den Kopf, fühlte sich aber nicht in der Lage etwas zu sagen. Das Mädchen ging zum Fenster und schaute hinaus, während ihre Mutter sich auf die Bettkante setzte. " Mama! Wir müssen jetzt gehen. In einer Stunde ist es so weit. Ich weiß, es ist schwer für dich. Für mich und Oskar ist es das auch. Der kommt übrigens in zwanzig Minuten an. Er sagte, er nähme sich ein Taxi und komme dann direkt". Mathilde schwieg immer noch und die Tochter, die die Stille nicht ertrug, drückte ihre Hand, bevor sie fortfuhr: "Mama! Wir sollten uns nun auch ein Taxi nehmen. Es ist wirklich Zeit. Ich weiß, wie schwer das für dich sein muss. Wir alle werden Opa sehr vermissen. Er war..." Mathilde stemmte ihren Körper hoch, der wegen des Alters und des Gewichts ihrer Knochen schmerzte und Geräusche, die Mathilde gelernt hatte, zu überhören, von sich gab. Sie starrte ihre Tochter an, die sofort zurückwich und sich gegen das Fußende des Bettes drückte. "Er ist nicht mein Opa. Er ist nicht dein Opa. Er war dein Vater und mein Mann. Er war Otto. Und das wird er immer bleiben." Die Tochter nickte und stolperte vom Bett. Mathilde schaffte es sich aufzurichten und langsam zum Fenster hinter ihre Enkelin zu treten, die fasziniert das blinkende Gebilde anstarrte und schließlich tonlos fragte: „Oma, weißt du, wie hoch der ist?“ Als Mathilde die Zahl nannte, schüttelte das Mädchen leicht den Kopf und fragte, ob sie einmal darauf gehen könnten. Mathilde konnte ihre Tränen nicht mehr verbergen und drückte ihre Enkelin an sich, die ihr über den Kopf streichelte. "Ich bin mir sicher, dass hätte ihm auch Spaß gemacht, oder was meinst du, Anna?", flüsterte sie und ließ ihn vor ihren Augen verschwimmen. |