Zwischen den Grenzen
Verzweifelt klammerst du dich an die glitschige Reeling. Der Sturm reißt dich fast über Bord, das Wasser peitscht dir hart ins Gesicht. Die letzten Fetzten deiner Kleidung sind völlig durchnässt und eiskalt, ganz zu schweigen von deinem Körper.
Eben noch hast du eine Sekunde verschwendet, daran zu denken, wie es deinen Begleitern wohl ergeht, doch du siehst die Hand vor den Augen nicht. Wie solltest du dann eine andere Person erkennen? Der Gedanke verflüchtigt sich so schnell, wie er gekommen ist. Ein anderer drängt sich statt seiner in den Vordergrund. Du fragst dich, was du hier tust, was dich hier her geführt hat, in diesen Teil der Welt, den du früher so bewundert hast und nun so elendig verfluchst. Nur in der hintersten Windung deines Gehirns weißt du genau, dass du nicht anders konntest, als hier her zu kommen, dass du, wenn du dich anderes entschieden hättest, nicht du selbst gewesen wärst.
Für dich hat alles vor 4 Tagen begonnen, aber der Ursprung dessen, was dich magisch zu diesem Ort zogen, liegt sehr viel weiter zurück in einem Zeitalter, aus dem heute keiner mehr etwas genaues weiß. Doch deine Geschichte, dein Schicksal nahm letzten Dienstag seinen Anfang.
Du musstest jedes mal gegen die Sonne blinzeln, wenn du die Position der Zeitung auch nur ein paar Zentimeter nach unten verändertest. Aber darin hast du ja Übung. Schließlich ist diese Stelle mitten auf der großen Wiese, umgeben von Bäumen und Blumen, dein Lieblingsplatz, schließlich kommst du, so oft es geht, in deiner Mittagspause hier her. Es ist so ruhig, es ist so friedlich. Es ist nicht das Büro.
Doch an diesem Tag, beschäftigte dich nur eine Frage. Sie hatte auf einem Blatt gestanden, das irgendwie zwischen die Seiten deiner Zeitung gerutscht war, und das dir zufällig in die Hände fiel. Die Frage war völlig zusammenhangslos und trotzdem ließ sie dich nicht mehr gehen.
Wie wäre es, wenn du morgen eine Reise in das Bermuda-Dreieck unternehmen würdest? Mit dem Flugzeug oder mit dem Schiff? Wie wäre es zu wissen, dass du in wenigen Stunden einen Ort betrittst, um den sich so viele Geschichte ranken?
Mehr nicht. Kein Empfängername, kein Absender, kein Datum. Die Schrift könnte jedem gehören. Und trotzdem. Du fühlst, dass diese Botschaft nur für dich war.
Als du auf dieser Wiese lagst, war da plötzlich dieses Schiff vor deinem inneren Auge.
Du hast dir vorgestellt, du stehst auf seinem Deck, um dich herum ist nichts als Wasser. Über hunderte von Kilometern. Die anderen Passagiere sind unten in ihren Kabinen oder im Speisesaal. Es ist Abendessenszeit, doch du verspürst keine Hunger. Du bist allein dort draußen. Außer deinem Atem und dem Rauschen der Wellen ist nichts zu hören. Eine sanfte Briese streift über deine Wangen, du atmest die frische Meeresluft tief ein. Das Wasser unter dir ist von unglaublich tiefem blau-grün, der Himmel über dir zeigt den violetten Schein der langsam untergehenden Sonne. Wunderschön, denkst du dir, wie jeden Abend.
Das Schiff gleitet lautlos dahin, immer weiter. Meter für Meter bringt es dich näher an den Ort, von dem du schon so viel gehört, aber niemals geglaubt hast ihn einmal zu betreten. Diesen Ort, der sich mitten im Atlantik zwischen der Küste Floridas, der Jucatanhalbinsel und den Bermudainseln erstreckt. Diesen Ort, der bei dir Faszination und zu gleich auch Angst auslöst.
Du weißt nicht genau, wo überhaupt dein Schiff sich im Augenblick befindet, du weißt nur, dass du in der Nähe sein musst. Du kannst es förmlich spüren. Dazu brauchst weder einen Kompass, noch eine Karte.
Du versuchtest zu denken, was du in diesem Moment denken würdest.
Würdest du dich fragen, ob du dich vielleicht schon mitten drin befindest? Oder würden deine Gedanken weg von dir zu all jenen Schiffen wandern, die hier verschollen gingen oder sanken und deren Schicksal keiner kennt? Was mit ihnen geschah, wo sie sind? Vielleicht würdest du auch die Gedanken an das, was sein könnte vergessen wollen und sie verdrängen?
Du versuchtest zu fühlen, was du in diesem Moment fühlen würdest.
Neugierde, angespannte Erwartung, ob etwas geschieht? Angst vor der Ungewissheit, dem Ausgang deiner Reise? Würdest du die Gänsehaut, die sich auf deinem Rücken und deinen Armen bildet der kühlen Abendbriese zuschreiben, oder etwas anderem? Würdest du spüren, wie etwas dir langsam die Kehle zu schnürt, weil du nicht weißt, was um dich herum geschieht?
Du versuchtest zu ergründen, wie deine Mitreisenden reagieren würden.
Würden sie wahrnehmen, wo sie sich gerade befinden, würden sie gespannt die Luft anhalten oder hysterisch herum laufen? Oder würden sie vor lauter Unterhaltung und Attraktionen auf dem Schiff ganz vergessen an was für einem mystischen, unheimlichen Ort sie sich befinden?
Du fragtest nicht nach dem Ausgang deiner Reise. Wo zu auch? Es war ja nur ein Tagtraum.
Du stelltest dir vor, du würdest diese Reise gleich morgen unternehmen. Dann fiel dir auf, dass du nichts zu verlieren hattest. Nur ich, aber das konntest du damals nicht wissen.
Die Koffer waren schnell gepackt und für einen ist auf einem riesigen Schiff immer noch etwas Platz. Meine Gänsehaut hast du ignoriert.
Und jetzt bist du hier. Und es ist nicht einmal Ansatzweise so, wie du geglaubt hast. Es ist nicht schön, interessant, phantastisch oder romantisch. Es ist grausam, es ist wild, es ist unberechenbar.
Du stehst in Mitten des Unbegreifbaren und der Rückweg scheint verschwunden. Das Schiff, dass dir gestern noch so groß, gemütlich und schützend vor kam, ist heute zur Falle geworden. Der Sturm ist ein Monster. Stark, gefährlich und gnadenlos. Vor 4 Tagen hast du das Bermuda-Dreieck für das Stillschweigen über seine Geheimnisse verehrt, jetzt fürchtest du es, weil du sein größtes Geheimnis kennst. Du hieltest es für einen Zerstörer, nun weißt du, dass es ein Schöpfer ist. Erschaffer der Stürme, der Angst, des Leides. Und Hüter des Todes.
Du zitterst, das Klappern deiner Zähne wird vom Gebrüll des Orkans verschluckt. Die Erinnerung an heiße Sonnenstrahlen, die dich vor wenigen Stunden noch wärmten ist völlig aus deinem Kopf gelöscht. Es gibt keine Wärme mehr. Die Kälte hat den Kampf gewonnen. Du spürst, wie das das Unwetter nicht nur an deinem Körper und an deiner Kleidung zerrt, es frisst auch deine Kraft. Du weißt nicht, wie lange du dich noch halten kannst, schlimmer noch, du weißt nicht, wie lange die Rehling dieser Naturgewalt noch stand hält.
Dann plötzlich ist der Sturm nicht mehr stumm. Er trägt dir Worte zu. Es sind die Worte Fremder, aber du fühlst dich eine Sekunde lang nicht mehr so klein und verloren. Doch du verstehst das gesagte nicht. Nur ein winziger Fetzten erreicht dein Trommelfell, kaum hörbar.
Warum hab ich das nur getan?
Du zuckst zusammen. Du kannst den Sprecher nicht sehen, du kennst den Zusammenhang nicht und doch zuckst du zusammen. Wärest du noch zu irgendwelcher Logik fähig, wäre dein erster Gedanke wohl, dass der Fremde seine Entscheidung hier her zu fahren bereut, aber die Logik wurde längst ausgelöscht. Norm existier nicht mehr. Chaos regiert diesen Ort. Und eine Frage jagt die andere. In diesem Augenblick fragst du dich, ob nicht etwas schlimmeres geschehen ist, dass dieser Mensch bereut. Du fragst eine Sekunde. Mehr Zeit hast du nicht. Länger würde es deine Kraft nicht zulassen.
Bis vor einer Stunde dachtest du, es würde nichts passieren, du würdest übermorgen unbeschadet das Schiff verlassen und die Reise wäre nichts besonderes gewesen. Eben einen längere Fahrt mit dem Schiff. Etwas, das jeder tut. Aber glaubst du nicht, es hätte dich trotzdem verändert? Ein kleines bisschen vielleicht? Nicht jede Reiseroute führt schließlich durchs Bermuda-Dreieck. Anspannung verändert Menschen, Unsicherheit verändert Menschen. Vielleicht. Es ist zu spät es heraus zu finden.
Du weiß nicht, wie lange du dich schon an dieses Geländer klammerst, aber du ahnst, dass die längste Zeit vorüber ist. Nicht so der Orkan, auch das ist dir bewusst. Entsetzt wird dir klar, dass deine Finger immer weiter abrutschen. Nachgreifen ist sinnlos, für dich auch unmöglich. Der Schock paralysiert dich. Du spürst keine Kälte mehr, keinen Regen. Du hörst keinen Sturm. In dir herrscht plötzlich beruhigende Leere. Nicht mal die Hand, die verzweifelt nach dir greift, um das Schlimmste doch noch zu verhindern, nimmst du war. Deine Augen sind geschlossen. Die Hand berührt nur für ein paar Sekunden dein Handgelenk, doch sie bietet dir keine Rettung mehr. Kein Mensch kann dem Bermuda-Dreieck auf ewig versagen, was es einfordert. Was ist ein winziger Mensch, gegen eine fast allmächtige Naturgewalt?
Du rutschst vollends ab, doch es spielt für dich keine Rolle mehr. Du hast deine Niederlage längst eingestanden. Was hättest du auch tun sollen? Nicht ein mal die Worte, der Schrei, des Mannes, der immer noch verzweifelt versucht dich zu erreichen, dringt an dein Ohr. Für den Bruchteil einer Sekunde öffnest du die Augen. Das letzte, was du siehst, ist die Scheme eines Gesichtes direkt vor dir.
Und dann ist da wieder der Sturm, aber er dauert nur kurz an. Für dich. Die Schwärze der Nacht und des Orkans weicht einer anderen Schwärze. Einer Schwärze, die noch viel mehr Macht besitzt. Einer Schwärze, der du noch viel weniger entkommen kannst. Du weißt nur, dein Kampf ist zu ende. Du verstehst jetzt: Das Bermuda-Dreieck gibt keinen frei, der sein düsteres Geheimnis kennt. Doch dein allerletzter Gedanke gilt mir. Jetzt weißt du wo vor ich Angst hatte. Und dir wird bewusst, dass du es auch damals schon gewusst hast, es nur nicht wahrhaben wolltest. Ein Fehler.
Und dann denkst du nichts mehr, du fühlst nichts mehr, du existierst nicht mehr. Dein lebloser Körper wird von den Strudeln immer weiter hinab in die pechschwarze Tiefe gezogen. Über dem Wasser tobt unermüdlich der Sturm.
Noch Tage später kreuzen ein duzend Boote der Wasserwacht das Meer an der Stelle, von der euer letzter Funkspruch kam.
Mayday.
Sonst nichts.
Das Wasser hat sich wieder beruhigt, die Oberfläche ist spiegelglatt und hat eine wunderschöne Farbe. Kristallblau. Wie deine Augen. Nichts stört diese friedliche Idylle. Kein Schiff. Keine Überlebenden. Ich habe es gesehen. Ich stehe auf einem dieser Boote. Ich stehe auf diesem Boot und kann nicht glauben, dass hier vor wenigen Tagen ein solcher Orkan gewütet hat. Und dennoch muss ich es glauben, denn du bist nicht mehr da. Jetzt scheint das Meer so ruhig, fast friedlich, aber tief in mir kenne ich seine schwarze Seele, die mich dir beraubt hat.
Meine Tränen vermischen sich mit dem Wasser. Ich bete, dass es wenigstes dieses eine Mal Mitleid hat. Die Tränen sind mein Versprechen an dich, dich ewig zu lieben und das, was uns so grausam und unbarmherzig auseinander gerissen hat, soll jetzt mein Bote sein. Das Meer hat uns getrennt, aber es wird uns auf ewig verbinden.