Zwei Groschen
Die Zeiten waren schlecht.
Damals war ich ungefähr acht Jahre alt.
Mein Vater war als Gymnasiast von der Schulbank weg eingezogen worden und kam, noch jung, gealtert aus dem Krieg heim.
Eine Bombe hatte seine Mutter zerrissen, sein Vater war Hilfsarbeiter bei der Eisenbahn.
Der Vater meiner Mutter war Bergmann, ein Beruf, den der Diktator sehr schätzte, und Opa schätzte den Diktator.
Auch von ihrer Mutter weiß ich nur, daß sie im Krieg umgekommen ist.
Meine Mutter hatte dieser Krieg nach Osten verschlagen, hinein in die anrückenden Truppen der Russen.
Die Startbedingungen nach dem großen Krieg waren für viele, auch für meine Eltern, denkbar schlecht und beide arbeiteten sie hart.
Mein Vater studierte Medizin und meine Mutter, Krankenschwester von Beruf, war in einer Spinnerei beschäftigt und nach Feierabend ging sie putzen.
Eine Nenntante väterlicherseits kümmerte sich um mich.
Ein paar Jahre später wurde mein Bruder geboren, meine Mutter konnte nun nicht mehr arbeiten gehen.
Zu dieser Zeit wurde das Einkommen noch bescheidener.
Sehr ehrgeizig war mein Vater und nutzte jede Gelegenheit, beruflich voranzukommen.
Er machte sein Pflichtjahr in einem Krankenhaus und wir mußten umziehen.
Meine Mutter dreht jeden Pfennig zweimal um, manchmal auch dreimal.
Einmal, vollkommen überraschend, schenkte sie mir Kirmesgeld.
Sie drückte mir zwanzig Pfennig in die Hand, zwei Groschen, wie die alten Tanten sagten.
Ich ahnte, daß das Geld einen Wert hatte, den halben Tag lief ich über den Kirmesplatz und schaute überall zu, ohne das Geld anzurühren.
Was gab es da nicht alles zu sehen:
die riesige Dampforgel, deren Druckkessel die Kraft lieferte, damit der mächtige Treibriemen die mannshohen Holzfiguren drehte und dabei noch die Melodien über den Platz schmetterte.
Alle diese bunten Buden, die Raupe, deren süßes Geheimnis ich erst sehr viel später erfahren sollte, die Luftballons, die in allen Farben leuchteten, der Eisbärmann, der mich immer so erschreckte, bis ich sein kleines Gesicht zwischen den riesigen Fangzähnen entdeckte. Danach fürchtete ich mich weniger.
Das Kettenkarussell hatte es mir angetan.
An viel zu dünnen Ketten, wie ich mit Sorge bemerkte, hingen Sitze mit Lehnen, in die sich die Menschen zwängten und es dann wagten, mit einer Sicherheitskette vor dem Bauch, sich mit Hilfe der Fliehkraft über die Köpfe der Besuchermengen schleudern zu lassen.
Von dort oben hatten sie sicherlich eine schöne Aussicht auf die Schiffschaukel nebenan und das Riesenrad am Rande des Platzes.
Ich stand und schaute, freute mich mit den Menschen, wenn sie vor Vergnügen jauchzten und litt mit ihnen, wenn sie bei rasender Fahrt vor Angst schrien.
Das Gewimmel der Menschen, die bunten Luftballons, die Gerüche von Anis, Lakritzen und kandierten Erdnüssen, die Musik aus den Lautsprechern, die Mikrofone der Budenbesitzer, alles stürzte auf mich ein.
Ab und zu tastete ich nach den zwei Groschen, den zwanzig Pfennig, das klang nach mehr Geld.
Ich vergewisserte mich, daß sie noch da waren, mittlerweile angewärmt und ein wenig klebrig.
Dieses absichtlose Zugucken ging, ganz leise aber stetig, in ein zartes Verlangen über und wurde nach und nach zum Wunsch, auf eines dieser Kirmesgeräte zu steigen.
Schnell unterdrückte ich den Gedanken daran, kam an einem Pferdekarussell vorbei, die Tiere hatten wehende, weiß lackierte, wilde Mähnen, wippten immer auf und ab in einem furiosen Galopp.
Mit ihren viel zu weit aufgerissenen Augen und Nüstern luden sie mich ein, auf der Stelle tretend, über die Steppe zu fliegen.
Das sie nicht wirklich galoppierten, stellte ich bei näherem Hinsehen mit Bedauern fest, und der ganze Zauber war dahin.
Dann war doch das Karussell mit den Autos besser, da drehten sich wenigsten die Räder.
Sogar einen Motorroller gab es dort und ein leuchtend rotgestrichenes Feuerwehrauto mit einer echten Messingglocke.
Das stille Verlangen wuchs auf dem Weg zum Boxring, zwischen den Losbuden.
Mehr noch, ich wollte das Geld auszugeben!
Ein innerer Kampf entbrannte in mir: das Feuerwehrauto oder doch lieber der Motorroller oder doch besser eins von diesen wilden Pferden, Lakritze wäre auch nicht schlecht oder türkischer Honig, Zuckerwatte, gebrannte Mandeln, alles weckte in mir Verlangen.
Immer mehr geriet ich in einen Zwiespalt - sollte ich nach Hause gehen und das Sparschwein füttern oder vielleicht doch ein Los kaufen, mit der Aussicht, einen riesigen, rosafarbenen Bären zu gewinnen.
Aber gab es denn überhaupt rosa Bären?
Ich war mir nicht sicher. So entschied ich mich für die drei Ringe an der Wurfbude, hatte das Geld schon in der einen Hand, die Ringe in der anderen, da streckte der alte Mann seine Hand aus und wollte das Geld haben, mein Geld.
Wild entschlossen legte ich die Ringe zurück und schlug den Weg nach Hause ein.
Dann aber geschah es:
mit steinerner Mine ging ich zur Schießbude, nahm ein Gewehr, bekam sechs Kügelchen für die zwei Groschen, öffnete die Kammer, ließ die Kugeln hineinträuflen und schoß auf die weißen Tonröhrchen, verbissen und wütend.
Der Mann im grauen Kittel suchte grinsend meinen Blick: Vier daneben, zwei getroffen. Da musst du aber noch üben.