Unschuldsvermutungen
Gegenüber meiner Großmutter lebte ein alter, weißhaariger Mann – allerdings ein Stockwerk höher, im dritten. Damals wohnte ich noch gar nicht bei ihr; ich war regelmäßig zu Besuch, keine acht Jahre alt. Omi wohnte im selben Neuköllner Wohn-Block wie meine Mutter und ich; ich konnte zu Omi gehen, ohne die Straße betreten zu müssen, einfach über den Hinterhof. Wie ich mit meiner Großmutter, saß der Mann, allerdings allein, viel am Fenster. Man beobachtete das Treiben auf der Straße. Ich winkte ihm oft, und wir freundeten uns aus der Ferne an.
Eines Tages wies er mich zu sich, auf seine Straßenseite, etwas in der Hand, deutlich gestikulierend, dass er diesen Gegenstand auf die Straße werfen wolle, und dass er für mich bestimmt sei. Omi erlaubte es mir, mit der Aufforderung, mich danach auch ordentlich zu bedanken.
Als ich vor seinem Mietshaus stand, und das kleine weiße Päckchen aufgehoben hatte, stellte ich fest, dass es ein Fünf-Mark-Stück war, eingepackt in ein Taschentuch und ein Stück Papier, dass es keinen Schaden nehme – oder anrichte.
Die glänzende, schwere Münze sollte mir gehören. Unbegreiflich für mich. Ich hatte nie eigenes Geld besessen. Ganz selten hatte ich von meinen Eltern oder von Omi einen Groschen bekommen, den ich am Kiosk für Süßigkeiten ausgeben durfte. Dieses Fünf-Mark-Stück sprengte sowohl als Münze als auch als Geldwert mir gewohnte Grenzen. Dankbarkeit ist kein Ausdruck für das, was ich empfand. Es war eine neue Welt.
Er erfreute sich sehr an meinem Glück.
Heute weiß ich: der Mann hatte zwei Weltkriege erlebt. Ich möchte nicht wissen, was er wiedergutzumachen hatte.
Bei einem beruflichen Gespräch, das eigentlich der Betreuung seiner erwachsenen behinderten Tochter gewidmet sein soll, fängt ein mir sonst fremder Mann an, mir von seinen Kriegserlebnissen zu erzählen. Ich mache gleich deutlich, dass ich eine Schlacht von der anderen nicht unterscheiden könne, dass mich nichts aber auch gar nichts am geschichtlichen Ablauf von Kriegen interessiere, und dass ich nichts mit militärischen Begriffen anzufangen wisse. Er nickt verständnisvoll, kommt, auf seine neben ihm stehende jüngere Gattin weisend, schnell zur Sache. Er nimmt ihre Hand.
„Wissen Sie, als ich aus der Gefangenschaft kam, hatte ich das Bedürfnis, mich mitzuteilen. Ich hatte ein schwer wiegendes Gewissen. Doch man schlug jedes Gespräch mit dem Hinweis aus, darüber rede man nicht. Nachdem ich meiner damaligen ersten Frau, der Mutter meiner Tochter, nach einem meiner alkoholischen Exzesse dann doch erzählte, was ich auf meinem letzten russischen Feldzug erlebt hatte, konnte sie nicht mehr mit mir unter einem Dach leben.“
Ich bitte, so taktvoll ich es kann, um Verständnis, dass auch ich nicht an Details interessiert sei. Er nickt.
Seine Frau streicht ihm über den Arm.