Der Maiskolbenmann ? mit Anton II (2005)
Neulich begleitete ich Anton zum Bahnhof Zoo. Er treibt sich ja des Öfteren dort herum. Der Bahnhof Zoo ist ein Ort, an dem sich so einige skurrile Personen tummeln. Anton gehört wohl auch dazu. Dieses Mal trafen wir auf den Maiskolbenmann.
Der Maiskolbenmann ist ein dicker, wirklich außerordentlich dicker Mann. An jenem Tag saß er in einem Rollstuhl und bemühte sich mit seinen Vorderzähnen einen Maiskolben zu bearbeiten. Dabei blieb weder seine Kleidung, noch der Rollstuhl, noch die nähere Umgebung verschont: Überall lagen die schilfartigen Blätter des Maiskolbens verstreut. Die kleinen gelben Körner zierten seinen Bauch.
Ich bin gar nicht mal sicher, ob der Maiskolbenmann überhaupt ein Mann ist. Sein Leib ist zu dick und aufgedunsen, das hätte alles sein können: eine Frau mit großer Oberweite (das hätte Anton gefallen), ein Mann mit Übergewicht, - - - es ist wahrscheinlich nicht einmal ein Mensch.
Eigenartig erschien mir, dass die Zähne des Maiskolbenmannes merklich größer sind, als das bei (dicken) Menschen normalerweise der Fall ist. Vielleicht handelt es sich bei dem Maiskolbenmann um eine sprunghafte Mutation, die durch den Verzehr von genbehandeltem Mais zu dieser Körperfülle herangewachsen war. Meine Vermutung wurde dadurch gestützt, dass sich in seiner Begleitung eine Person befand, die ? nicht minder skurril ? den vorbeieilenden Passanten weitere Maiskolben anbot. Mehr als merkwürdig war auch ihre unverständliche Lautsprache, mit der sie sich versuchte bemerkbar zu machen. Die Passanten, die auf diese Art und Weise angesprochen wurden, gingen nur verständnislos vorbei und schüttelten leicht ihren Kopf ? nicht zu heftig. Nie würden sie sich in aller Öffentlichkeit über die skurrilen Personen am Bahnhof Zoo, über mutierte Merkwürdigkeiten oder Märchenhaftes eschoffieren können.
Auch Anton wurde angesprochen. Freundlich nahm er einen der Maiskolben entgegen und schenkte seinem Gönner ein herzliches »Für mich? Danke!«. Noch etwas verwundert, doch sichtlich erfreut, zupfte er unbeholfen an den Blättern des Kolbens. Der Maiskolbenmann, welcher die Geste seines unterwürfigen Begleiters mit einem zufriedenen Nicken bekräftigte, schien sich über die Zuwendung eines Passanten derart zu freuen, dass ihm ein bebendes Lachen durch den Leib fuhr. Sein Rollstuhl wackelte, Maiskörner flogen umher, auch das eine oder andere ließ sich auf Antons dunkelgrüner Jacke nieder. Anton gab mit seiner Geste dem Maiskolbenmann und seinem Begleiter zu verstehen, dass sie eine wichtige Erscheinung, ja Bereicherung unserer Zeit seien, so formulierte er es zumindest. Ebenso betonte er, dass man auf skurrile und märchenhafte Bereicherungen nur am Bahnhof Zoo stoßen könne.
Aber warum sollten sich diese Bereicherungen gerade am Bahnhof Zoo aufhalten, fragte ich Anton. »Aber das ist doch klar«, kam seine spontane Antwort. »Erst seit die Debatte aufkam, den Bahnhof Zoo im wahrsten Sinne des Wortes aufs Abstellgleis zu verlegen, leuchtet den Menschen ein, dass es sich bei diesem Ort um einen modernen Mythos handelt. Und ein Mythos zieht selbstverständlich auch merkwürdige und märchenhafte Gestalten an. Klare Sache!«