Bekenntnisse des jungen Herrn S. (2001)
Als junger Mensch lebte ich in einer großen Stadt. Ich wohnte in einem recht bunten Stadtviertel, meinen Neigungen jedweder Art konnte ich hier ausreichend nachkommen. Eines Tages fing ich an zu schreiben. Ich schrieb über die käuflichen Damen auf der Straße, über die berauschenden Partys, über das Fischrestaurant unten im Haus, über die jungen Fehlgeleiteten, die jeden Tag immerzu in schwarzer Kleidung herumliefen; und ich schrieb über die eigenartigen Zustände, die mich damals noch ereilten.
Einmal gelang es mir, mich zu verkleinern. Die Stadt wirkte noch größer auf mich.
Ich hatte zu dieser Zeit psychotische Träume. Jeder einzelne war das Endergebnis einer andauernden Konditionierung, tagein, tagaus.
Irgendwann änderte ich die Art zu Schreiben. Vom Tagebuch ging ich zu resoluten Hetzschriften und pathetischen Bekenntnissen über. Die wollte natürlich keiner lesen, weshalb ich die entstandenen Dokumente im Kopierladen groß kopierte und überall in meinem Stadtteil plakatierte. Dann musste es jeder lesen.
Ich schrieb auch die psychotischen Träume, wie ich sie damals nannte, auf, um aus ihnen eine Art Bekenntnis zu machen. Ich klage darin gegen die Welt, ich führe gedankliche Kriege gegen die Systeme, die mich schier erdrücken. Der Traum, solch ein Traum, ist nur das erste Anzeichen einer degenerierten Figur, wie ich es bin. Der Traum lässt Rückschlüsse auf mein hoffnungsloses Leben zu. Und hier kommen sie, zwei der Träume:
Matrosen können platzen!
»Ich bin Ihr Diener«, sagte der kleine Mann. Er schlüpfte in den Anzug eines Matrosen. Blaue Jacke, blaue Hose, weißer Kragen. Deutlich waren die gelben Streifen auf den Schultern zu erkennen. Ein Mund öffnete sich, nicht der Mund des Matrosen. Der Mund dieser Stadt. Der Mund dieser Welt. Es schien, als wollte er den Matrosen und alles andere verschlucken.
Ein eigenartiger Druck lastete auf dem Matrosen, auf dem kleinen Mann. Ein Druck, der ihm zu schaffen machte. Es war, als rühre der Druck von dem Mund her. Und ebenso wie auf jedem Menschen ein gewisser Druck, ein städtischer Druck, oder ein weltlicher Druck lastet, wurde auch der Matrose von seinem Druck schier zerdrückt.
Unter dem Druck des Mundes, der alles verschlingen wollte, explodierte der Matrose. Tausende kleine rote und blaue Splitter verteilten sich im Raum. Eine riesige Zunge, die aus dem Mund schoss, versuchte gierig möglichst viele Splitter zu erwischen. Zurück blieben ein zufriedener Mund und ein kleiner Mann.
Leibbaum
Dunkelheit. Alles war von einer undurchdringlichen Schwärze erfüllt. Aber dennoch konnte er sehen. Er ging durch diese Szenerie und endete an einem Baum. Alles endete an diesem Baum. Sein Weg. Sein Leben. Seine Welt. Alles.
Langsam näherte er sich dem dunklen Baum. Die Wurzeln waren armdick und überwucherten einen mächtigen Felsen.
Der Baum trug weder Laub noch Nadeln. Er war kahl und von Asche schwarz. Wie drohende Hände und mahnende Finger wirkten seine Äste. Sie wirkten nicht nur so, es waren tatsächlich unheimliche Gliedmaßen. Arme, Hände und Finger von schwarzen, ausgetrockneten Menschen. Gierig griffen sie nach ihm. Ihr Ziel war es, alles ins Innere des Baumes zu ziehen.
Eine Mädchenstimme rief: »Komm zu mir! Es wird Zeit, Lacrima. Zusammen werden wir die unteren Reiche beherrschen.«
Verunsichert entfernte er sich von dem Baum, obwohl er innerlich dazu getrieben wurde, sich dem Baum voll und ganz hinzugeben. Aber diesmal war er stärker.
Die Äste begannen zu stöhnen und der Baum färbte sich rot. Er rannte fort und stieß abrupt mit sich selbst zusammen.
Und das sind die daraus resultierenden Bekenntnisse.
Absurditäten und Bekenntnisse
Ich gleiche einem Flummi, der zwischen Notwendigkeit und Muße hin und her, vor und zurück, hoch und runter hüpft. Unkontrollierbar in willkürlicher Bewegung schleudere ich meinen Gummileib gegen die Pole. Aus reiner Spontaneität entpuppt sich alsbald eine Bewegung als aktive Bewunderung eines willentlichen Entwurfs. Und dann die Umsetzung: »Schleudern« ist kein Erleiden ? ich handele, ich erkenne.
Trenne ich mein Wesen in Tun und Lernen, in Denken und Sein, verschaffe ich mir einen brauchbaren Überblick über mich, meine Welt, meine Wirklichkeit. Die einzelnen Teile lerne ich zu speichern, um bei Bedarf abrufen zu können. Das Ganze ist nicht fassbar, weder zu erkennen, geschweige denn auf mein Sein zu übertragen. Das ist absurd!
Erschaffe ich mir eine Form, die mich hält wie eine Backform den Teig, behalte ich Recht. Ich vermeide Rührkuchen. Das ist absurd! (Rührkuchen schmeckt mir.)
Der Mensch ist sich nie selbst Mensch allein. Er lebt immer auch für die Form. Dieser zum Dienste sollte er existieren: erst sein Wesen unschädlich gemacht, dann nützlich. Das ist absurd!
Ich leite meinen Geschmack global ab. Immerhin kämpfe ich für Einheit, für Gemeinschaft, für Ethik (welche ungeheuer leeres Wort!). Da muss ich zurücktreten mit meinen egozentrischen Ideen. Ich werde mich hüten! (Mein Vorgehen steht in keinem Widerspruch zur Gemeinschaft.)
Ich werde solange lärmen, bis mich der letzte Taube oder Dumme erhört hat! Ich werde solange gegen die Mauern der verbrämten Wahrheit anrennen, bis ich sie im Fundament eingerissen habe!
Ich werde solange versuchen, die Teile zu sammeln, bis es wenigstens für meinen Verstand ein sinnvolles Ganzes ergibt! Nennt mich töricht ? ich nenne euch absurd!
Ich blicke in mich, um erkennen zu können, was die Menschen stört. Ich bin nun einmal Herr S., nicht Herr A. oder B., noch heiß ich Schulz ? ich kann nicht anders. Sie kritisieren meine Rede, den Lärm werfen sie mir vor. Mag sein, dass ich laut bin, wenn ich lärme. Das liegt in der Natur des Lärms. Mag sein, dass ich gegen Mauern renne. Mag sein, dass ich denke, dass ich überzeuge. Aber ich stehe nicht in ihrer Schuld, ihnen den Sinn meines Lärms verständlich zu machen; das müssen sie schon selbst tun.
Da der Flummi irgendwann an Kraft verliert, kommt auch seine Bewegung zum erliegen. Auch seine Zeit ist begrenzt. Er sollte sie nutzen, er sollte springen. Nie kann er nach Stillstand streben, seine fleischigen Kollegen tun dies aber, und das macht sie unglaublich würdig. Oder unglaubwürdig.
Sie reden von Dingen, die sie nicht verstanden haben und nie verstehen werden, weil sie nicht verstehen wollen. Ganz recht, das ist ein Kreis ? vielleicht ein Teufelskreis. Vielleicht löse ich dieses Geheimnis nie auf, aber ich kann den Versuch nicht anstellen, wenn ich mich gar nicht erst in diesen Reigen einfinde.
Erst wenn sie wissen, auf welcher Ebene ihr Leben stattfindet, können sie die Vorgänge bewerten. Nicht um ihrer Mitmenschen willen, nur für sie. Alles andere wäre ein Fluch!
Was will ich eigentlich? Eine gute Frage: Ich will wollen können müssen. Einzeln wie zusammen, setzte ich mich selbst in eine Form: Ich will das und nicht jenes.
Unweigerlich bekomme ich eine weitere Form gesetzt: Ich kann nur das und nicht jenes.
Zuletzt will ich eine Form, die ich kann, auch müssen können. Ich suche erneut die Gewohnheit in der Handlung, nur so lerne ich, nur so kann ich verbinden. Diese Form muss eine freie sein, sonst kann ich nicht wollen.
»Ich will wollen können müssen« funktioniert nur in eine Richtung, obgleich auch »Ich muss wollen können« Sinn macht. Das ist trivial.
Dagegen: Ich muss können wollen. Absurd! Entweder ich kann oder ich kann nicht. Die Notwendigkeit lässt sich nicht wollen, sie ist mir auferlegt.
Doch wie sieht es mit der Muße aus? Was ist eigentlich Muße? Im Gegenzug zur Notwendigkeit lässt sie sich ausschließlich durch das Wollen erfassen. Können spielt für sie keine Rolle, weil sie sich in ihrer Gestalt über die Grenzen des Vermögens hinwegsetzt. Sie ist aber nicht nur unerreichbares Maß, sondern auch erfahrbares Tun. Erst sie ist die Würze in der Suppe einer Handlung, stellt sie doch ihr Wesen unter eine sinnliche Bedingung. Nebst aller Wahrhaftigkeit meines Gummileibes, werde ich erst durch die Farbe zu dem, was Kinder so sehr an mir schätzen. Ich bekenne.