Der Balkon
Novembermorgen.
Ein Balkon, wie man ihn bei Neubauten findet, mit einer Trennung, so daß sich die zwei benachbarten Mietpar-teien nicht sehen können.
Auf der linken Seite öffnet sich die Balkontür. Eine junge Frau, in schwarzer Unterwäsche und zerzaustem Haar, betritt den Balkon, lehnt sich an die Wand und zündet sich frierend eine Zigarette an. Was man in jenem Augenblick nicht sieht: ein Streit, mit ihrem noch im Zimmer befindlichen Liebhaber, ist diesem, fast heiligen Moment, vorausgegangen.
Während die junge Frau nachdenklich raucht, öffnet sich die Balkontür der benachbarten Wohnung. Eine ältere Frau kommt heraus und beginnt in ihrer alltäglichen Pose die Wäsche aufzuhängen.
Von der Straße her, plötzlich, unerhört laute Bremsgeräusche. Geschrei. Streit. Ein Kampf.
Die beiden Frauen, die eine mehr, die andere weniger interessiert, schauen über die Brüstung des gemeinsamen Balkons.
Ein älterer Mann schreit, ohne ersichtlichen Grund, auf einen jüngeren Mann ein. Es beginnt ein Handgemenge, bei dem nun der jüngere Mann eher defensiv, der ältere offen-siv agiert. Die Schläge des älteren Mannes kann der Jüngere gerade noch abwehren. Seiner Einstellung zufolge verbietet es sich, zurückzuschlagen. Da die rasende Geschwindigkeit der einzelnen und harten Schläge des älteren Mannes, es jedoch nicht zulässt, seine Einstellung, mal in diesem, mal in jenem Moment, ständig neu zu überprüfen, kann man den jüngeren Mann in dieser Situation als durchaus hilflos bezeichnen. Bei einem Befreiungsversuch aus dem Schwitzkasten des älteren Mannes geschieht es, daß der Jüngere, dem Älteren einen ordentlichen Kinnhaken verpasst. Die Situation beginnt sich zu kehren. Der jüngere der beiden entdeckt sein Kraftpotential. Ein nie dagewesenes Gefühl von Macht durch-flutet und beflügelt ihn. Eine Macht, welche von da an außer Kontrolle zu geraten scheint.
Der jüngere Mann, er kann sich nicht mehr beherrschen und verprügelt den vermeintlichen Aggressor, mit einer solchen Hingabe, daß dieser regungs-los am Boden liegen bleibt.
Während er nun vom Leblosen ablässt, lässt er, im Weitergehen, Fahräder umwerfend, Passanten anrempelnd und Autoscheiben einschlagend, weiteren Dampf ab. Seine Einstellung zu Gewalt hat sich an diesem Novembermorgen schlagartig geändert.
Jetzt erst bildet sich eine Traube von Menschen um den, am Boden liegenden Mann.
Zurück zum Balkon.
Während die ältere, vorher Wäsche aufhängende Frau noch immer neugierig über die Brüstung, dem Geschehen auf der Straße folgend, starrt, um kurz danach ihrer alltäglichen Verrichtung weiter nachzugehen, ist die junge, eben noch rauchende Frau wieder in ihrer Wohnung verschwunden.
Die Balkontür ist geschlossen.