Zwischenland II
„Was mach ich hier eigentlich“, fluchte Hagen, während er den Benz Richtung Autobahn lenkte. Hagens rechte Augenbraue begann zu Zucken. Wie niedlich, dachte Kilian. Siegfried hatte ihm nie erzählt, wie niedlich Hagen sein konnte. Dabei wusste er von Kilians Faible für Spießer. Diese ganze Aufgeregtheit, diese Moral. Das alles war sehr berührend und auch zum Schreien komisch. Obwohl die Tatsache, dass Hagen soeben den Benz seines Vaters gestohlen hatte, um mit Kilian Siegfrieds letzte Reise anzutreten, ihn eigentlich vom Verdacht, Spießer zu sein, freisprach. Als hätte er sich in Kilians Kopf eingeklinkt und all seine Gedanken mitgehört, fuhr Hagen mit vollem Tempo rechts ran und trat in die Eisen.
„Was wir vorhaben ist illegal. Ist dir das überhaupt bewusst?“
„Ich würde eher sagen lebensgefährlich.“
Kilian setzte sein allerfeinstes Pornolächeln auf.
„Du fährst wie der letzte Henker.“
Hagens Augebraue erhöhte die Taktzahl.
„Das ist Wahnsinn.“
„Das will ich doch hoffen.“
Kilian versuchte mit aller Macht ernst zu bleiben. Was ihm schwer fiel, denn Hagens Gesicht schrie danach ausgelacht zu werden. Zu den zuckenden Augenbrauen hatten sich zwei kleine Schweißbächlein gesellt, die ihm über die Nasenwurzel in die Augen liefen. Seine schmalen Lippen verkrampften derart, dass sie kaum noch sichtbar waren. Dabei waren eben diese mit das Erotischste an Hagen. Obwohl sie eigentlich nicht zu seinem kantigen, herben Gesicht passten, dass eher einen fleischigen, lustvollen Mund vermuten ließ. Dafür passten sie zu Hagens Wesen. Soweit Kilian dies einschätzen konnte.
Zurückgenommen und immer darauf bedacht, das Richtige zu tun.
Kilian verschluckte sein Lachen und wischte Hagen den Schweiß aus den Augen.
„Sollen wir den Benz zurück bringen?“
„Und dann?“ Hagen versuchte seine Irritation über Kilians zärtliche Berührung zu verbergen. Kilian entging das keineswegs. Er war selbst überrascht von dieser körperlichen Nähe, die er da einging. War es nun Zärtlichkeit oder pure Provokation, die ihn dazu verleitet hatte. Kilian war sich nicht sicher und ließ die Hand so unauffällig wie möglich sinken.
„Dann nehmen wir den Flieger. Hast du Kohle?“
Hagen lachte, was seinem Gesichtsausdruck mehr als gut tat. Er lachte laut.
„Im Ernst. Wenn dir das lieber ist, nehmen wir den Flieger.“
„Und wie willst da bitte die Urne durch die Sicherheitskontrolle kriegen?“
„Fuck.“ Eins zu Null für Hagen. Daran hatte Kilian nicht gedacht.
„Ist es verboten mit Urnen zu fliegen?“
„Mit gestohlenen schon.“
Hagen suchte Kilians Blick. Doch Kilian dachte nicht daran, dem nachzugeben. Er lenkte seinen Blick so unbemerkt wie möglich auf die Autobahnzufahrt, die vor ihnen lag. Irgendetwas kippte hier gerade und er war nicht bereit, seine Überlegenheit aufzugeben. Nicht bevor er wusste, wieso er in Hagens Nähe unsicher wurde. Nicht bevor er wusste, wie er diese Unsicherheit abstellen konnte.
„Naja, es ist auch verboten mit gestohlenen Autos zu fahren.“
Nun schaute Hagen weg.
„Es ist mein Wagen.“
Da war sie wieder die alte Stärke. Die Überlegenheit.
Was für eine Pfeife.
„Du fährst n Benz?“
Hagen antwortete nicht, aber ihm war anzusehen, dass er sich am liebsten entmaterialisiert hätte.
„Na und?“, ranzte er Kilian an, der anstelle eines Kommentars lieber sein Grinsen als Waffe zog.
„Muss ich mich jetzt dafür rechtfertigen?“
„Musst du nicht. Aber du tust es.“
Hagens Verlegenheit machte Kilian scharf. Komm du kleiner Spießer, küss mich, steck mir deine Zunge in den Hals und dann lass uns in den Wald da vorne ficken gehen, dachte Kilian. Zeig´s mir. Das Brodeln, den Abgrund, den Kilian in diesem Moment in Hagens Augen sah. Der Schmutz hinter der adretten Fassade, das war es was Kilian wollte. Gepaart mit der Macht, die er über ihn hatte, solange sich Hagen seiner Kraft nicht bewusst war. Das war Kilians wahrer Kick. Den Schmutz aus den Anständigen herausholen, sie damit in den Händen haben. Macht über sie haben. Sich alles nehmen, was sie zu bieten haben und sie dann fallen zu lassen.
Normalerweise wäre Kilian genau hier zum Angriff übergegangen, hätte sich einen guten Fick geholt und dann weitergeschaut, ob ihn eine Fortsetzung noch interessierte. Aber irgendetwas hielt ihn davon ab. Und das machte ihn wütend.
„Hast du wirklich gedacht, du könntest mich damit beeindrucken, dass du ein Auto stiehlst? Was für eine beschissene Lüge.“
„Wer sagt denn, dass ich dich beeindrucken wollte“, unternahm Hagen einen hilflosen Versuch sich zu retten.
Kilian sagte nichts. Schweigen und Grinsen. Das waren seine besten Waffen, das wusste er. Und es galt diese nun einzusetzen und diese Schlacht zu gewinnen. Zumindest diesen Teilabschnitt. Die Schlacht würde länger dauern. Darüber war er sich plötzlich bewusst.
Hagen begann sich zu verhaspeln.
„Überhaupt. Diese ganze Idee Siegfrieds Asche in diesen verfickten Canale Grande zu streuen ist doch so was für den Arsch.“
„Ja, ich weiß, das ist Wahnsinn.“
„Ja ist es.“
„Aber es ist nicht der Canale Grande sondern ein kleiner Kanal am Fondamente di Convertite.“
„Egal. Ich frage mich einfach, wieso ich diese Scheiße mitmache.“
Kilians Blick sezierte Hagens Augen. Er wurde ernst. Bereit zum Dolchstoß. Und die Waffe dafür war Verachtung.
„Weil er dein Bruder war.“
Hagen schluckte. Schaute weg. In Panik wanderten seine Augen hin und her, suchten nach etwas, an dem sie sich festhalten konnten. Dann stieß er die Autotür auf, stieg wie ferngesteuert aus dem Wagen, lief ein paar Schritte und blieb dann abrupt mit dem Rücken zur Windschutzscheibe stehen.
Er ist assimiliert worden, dachte Kilian. Irgendwo hier muss die Borgkönigin sein. Er lachte kurz auf. Bitter. Da war er wieder. Der Rettungsanker Zynismus. Wie immer, wenn ihm etwas nahe ging.
Kilian stieg ebenfalls aus dem Auto und ging auf Hagen zu. Dies war weder die Zeit noch der Ort für Zynismus. Sie hatten etwas gemeinsam. Sie hatten Siegfried beide sehr geliebt. Jeder auf seine Art. Kilian als Freund und Hagen als Bruder. Siegfried hatte ihnen beiden viel bedeutet. Sie hatten ihm beide viel zu verdanken. Das wusste Kilian. Und er wusste auch, dass Hagen es nicht wusste. Er wusste, dass er Hagen Siegfrieds Geschichte würde erzählen müssen. Das hatte er Siegfried versprochen. Ein grausames Versprechen. Kilian wusste, dass Hagen mehr Verständnis und Einfühlungsvermögen brauchte, als er ihm geben konnte, oder bereit war zu geben.
Aber jetzt, in diesem Moment, würde er ihn zumindest trösten können. Dachte Kilian. Doch als er dann in Hagens Augen sah und ihm erneut die Tränen wegwischen wollte, ihn einfach nur so umarmen wollte, ohne jeglichen sexuellen Hintergedanken, krampfte sich alles in ihm zusammen. Das war es also, was die Machtverhältnisse kippen ließ. Das war es was ihm Angst macht. Das, was da in Hagens Augen lag. Sanftheit.
„Gib mir den Schlüssel. Ich fahre.“
Kilian nahm Hagen den Autoschlüssel aus der Hand und startete den Motor.
„Los, komm schon.“
Nach einer ewigen Weile rührte sich Hagen endlich und setzte sich zu Kilian in den Wagen.
„Es ist Wahnsinn.“
Hagens Blick fiel leer durch die Windschutzscheibe.
„Ich weiß“, sagte Kilian und steuerte den Benz auf die Autobahn.