Zwischenland - Fragment I
Zwischenland
Oder
Vom Leben nach dem Davor und vor dem Danach
Seltsam teilnahmslos schien Hagen am Grab seines Bruders zu stehen. Doch wenn man genau hinsah, konnte man ein verstecktes Grinsen auf seinem Gesicht erkennen. Gerade eben hatten ein paar Freaks die Beerdigung gestört, indem sie einen Ghettoblaster direkt hinter der Trauerschar positioniert und volle Pulle „The Next Thing To Murder“ von Gavin Friday and Man Seezer gespielt hatten. Unfreiwillig waren Hagens Mundwinkel nach oben geschnellt. Es war, als hätte Siegfried diesen Auftritt der Freaks posthum bestellt. Und wahrscheinlich war es auch so. Wenn auch wohl nicht posthum. Einige der tumben Dorftrottel dieser heiligen Gemeinde, wie Hagen gerne sein Heimatdorf nannte, hatten sofort auf Wink seines Vaters eingegriffen. Sie traten gegen den Ghettoblaster bis er schwieg und schafften die Freaks ziemlich unsanft vom Friedhof. Die wiederum schienen damit gerechnet zu haben. Sie leisteten keinerlei Gegenwehr, sondern sangen einfach, anstelle des Ghettoblasters, lauthals weiter, während sie weggestoßen wurden.
„Welcome, come on, to the happy end. Your feelings they don´t count boy.”
Diese Freaks mussten definitiv Freunde von Siegfried sein. Das war sein Lied gewesen. Eine halbe Ewigkeit hatte er seine Familie, jedenfalls das was sich so nannte, mit diesem Lied genervt. Hagen hatte dazugehört zu diesem Konstrukt. Hatte sich nicht nur in diesem Fall auf die Seite der Eltern geschlagen. Doch jetzt, in diesem Augenblick, fast zwanzig Jahre später, genoss Hagen jede einzelne Zeile.
„Sunset over hell. The worst is yet to come now“
Es war einfach zu schade, dass ihre Mutter kein englisch konnte. Hätte Hagen gewusst, dass es diesen Moment in seinem Leben jemals geben würde, er hätte es ihr beigebracht. Nur für diesen einen köstlichen Moment. Hagen wollte nicht undankbar sein. Siegfrieds letzter Gruß an ihre Eltern aus dem Grab heraus war großartig. Hätte ihre Mutter den Text des Liedes aber dazu noch verstanden, wäre Siegfrieds letzter Auftritt perfekt gewesen. So musste Hagen sich mit dem versteinerten Gesicht seines Vaters, der jedes einzelne Wort verstand begnügen.
„You can crawl, you can walk, you can run. For he who is, who was, is now to come. So this is where we turn to friends, because this is where it all ends.”
Lautlos bewegten sich Hagens Lippen. Als er es bemerkte, war er verwundert über die Tatsache, dass er den Text auswendig konnte. Wenn er den Rest des Songs richtig in Erinnerung hatte, würde das Finale ein besonderer Spaß werden. Doch allmählich verstummten die Stimmen von Siegfrieds Freunden. Ruhe kehrte auf dem Friedhof ein. Die Trauergemeinde, die keine war, blickte wie ferngesteuert auf das Erdloch in das soeben Siegfrieds Sarg hinuntergelassen wurde. Diese Beerdingung war absurd. Eine Farce. Die trauernden Menschen hier, wie bestellt. Niemand von ihnen hatte Siegfried in den letzten Jahren zu Gesicht bekommen. Hagen eingeschlossen. Und diejenigen, die ihm nah gewesen zu sein schienen, hatte man eben eliminiert. Das, was ihre Eltern so lange vergeblich versucht hatten, die Disziplinierung Siegfrieds, sollte anscheinend wenigstens im Angesicht des Todes funktionieren. Es war eine absurde Veranstaltung. Ein christliches Begräbnis für einen suizidalen Junkie, der bei seinem Abschied aus dem Dorf versucht hatte die Kirche abzufackeln. Es war die Rache ihrer Eltern an Siegfried für das Leben, das er geführt hatte. Und es machte Hagen wütend. Es war, als hätten sie Siegfried zum Abschied noch mal das scheiß Kruzifix, ihrer Moral und Enttäuschung, in den Arsch gesteckt, ihn damit gefickt. Und als sie es schön tief bis zum Anschlag in seinem Gedärmen platziert hatten, mal fix eben ein paar Mal herumgedreht, auf dass er es in der Hölle, in der er sicherlich schmoren würde, nie vergessen möge. Siegfrieds Antwort auf dieses katholische Schaulaufen, das er nicht gewollt, aber wohl erwartet hatte, hatten soeben alle vernommen. Wenn sie es auch so gut wie möglich ignorierten. Aber Siegfrieds Antwort war unterbrochen worden. Ihre Eltern hatten ihn, wie gewohnt abgewürgt. Mundtot gemacht. Das wurmte Hagen. Dieses Mal sollten sie nicht das letzte Wort behalten. Nicht bei Siegfrieds Tod.
Die Männer, die den Sarg heruntergelassen hatten, traten zurück und Hagens und Siegfrieds Eltern vor, um Erde auf Siegfried zu werfen. Auch nichts Neues, dachte Hagen. Ihre Eltern traten zurück. Hagen trat vor. Es war, als flüstere Siegfried in sein Ohr. Und wie früher, wenn sie als Jungen Streiche ausgeheckt hatten, wehrte sich Hagens Vernunft zunächst gegen diese Idee. Andererseits, würde Siegfried so doch noch das letzte Wort behalten. Hagen führte seine Hand langsam zu dem Spaten in dem Erdhügel an Siegfrieds Grab. Er umfasste ihn, aber nur, um ihn wieder loszulassen und seine Hand in seinen Schritt führen. Hagen öffnete seine Hose, wühlte mit zitternden Fingern nach seinem Schwanz, holte ihn raus und pisste auf Siegfrieds Grab.
„Jesus und Maria.“ Es waren die ersten Worte, die er von seiner Mutter seit seiner Ankunft hörte.
Hagen beachtete sie nicht. Hagen beachtete niemanden. Und niemand beachtete Hagen. Jedenfalls versuchten sie es. Während Hagens gelber Strahl die Erde seiner Eltern auf dem Sarg in Matsche verwandelte, schauten die Mitglieder der „heiligen Gemeinde“ zu Boden. Wahrscheinlich baten sie ihren Herrn, Jesus möge in Hagen fahren und ihn von seinem frevelhaften Handeln abbringen, oder zumindest, dass ihn der Blitz treffe.
„Ich hoffe, du nimmst meine Entschuldigung an, großer Bruder.“
Hagen verstaute seinen Schwengel wieder in der Hose. Ein kleines glucksendes Lachen entfuhr ihm. Was für eine pubertäre, pseudorevolutionäre Aktion, dachte er bei sich und versuchte sein Lachen zu unterdrücken. Siegfried hätte es gefallen.
Hagen hatte das Grab seines Bruders keine zehn Meter hinter sich gelassen, da brach das Lachen nur so aus ihm heraus. Er brauchte sich nicht umzudrehen, um die Gesichter seiner Eltern sehen zu können. Es war eine Beerdigung nach Siegfrieds Geschmack gewesen. Soviel war sicher. Und er war froh, dass er jetzt lachen konnte. Irgendwann würde er vielleicht auch weinen können. Vielleicht.
Doch jetzt wollte er lachen. Um Siegfrieds Willen. Um seines geliebten, gehassten Bruders Willen. Um seiner selbst Willen. Die Gedanken vertreiben, was er mit dem Tod seines Bruders zu tun hatte. Hagen hatte den Friedhof verlassen und lief die Dorfstrasse hinunter zu dem Gasthaus, in dem die Trauerfeier stattfinden sollte. Er war sich nicht sicher, ob er daran teilnehmen wollte. Oder durfte. Ein gern gesehener Gast würde er nun auf jeden Fall nicht mehr sein. Da er aber ein Zimmer dort gemietet hatte, blieb ihm nichts anderes übrig, als daraufhin zu steuern. Selbst wenn er gleich wieder fahren sollte, er müsste zumindest seine Sachen aus seinem Zimmer holen. So sehr Hagen versuchte das Lachen zu halten, er gelang ihm nicht. Die Dorfstrasse, Hauptverkehrsknotenpunkt ländlicher Tristesse, bombardierte ihn mit Erinnerungen. Hagen durchbrach das Raum – Zeit Kontinuum und landete unsanft in den Bildern seiner Kindheit. Und das Lachen verstummte. Reflexartig klammerte er sich an die Bilder der Beerdigung. Die Freaks, die entsetzte Gemeinde, seine Heldentat, die keine war, und doch war. Es half nichts. Diese Strasse hatte sich so gut wie gar nicht verändert. Eng und pittoresk schmiegten sich die Häuser an den Asphalt, der von blitzblanken Bürgersteigen gesäumt wurde. Mit jedem Schritt wurde Hagen ein Stück jünger. Vor dieser Scheiße hier kann man noch nicht einmal die Augen zumachen, dachte Hagen, als sein Blick auf ein Fenster mit halbhohen Gardinen und einem seltsamen Subjekt aus Salzteig hinter der Scheibe fiel. Er versuchte es trotzdem. Wie erwartet hatte sich das Bild des Fensters bereits in seinem Gehirn festgesetzt. Es war, als warteten gierige, ausgehungerte Synapsen hinter seinen Augen nur darauf die Schlüsselreize aufzunehmen und ohne Umwege an ein Areal seines Denkapparates weiterzuleiten, wo all die Erinnerungen lagen, die er nicht löschen konnte, um sie zu aktivieren. Als Hagen am Gasthaus ankam fühlte er sich wie fünf. Er kramte unruhig in seiner Manteltasche nach seinem Zimmerschlüssel und war seinem, sonst so verhassten, Ordnungssinn sehr dankbar, diesen dort auch vorzufinden. Im Moment fühlte er sich so klein, dass er gestottert hätte, wenn er Christian, Wirt des Dorfkruges und Erzfeind seiner Kindheit, nach dem Schlüssel hätte fragen müssen. Wer nichts wird, wird Wirt. Noch so eine Erinnerung. Dieses Mal einer der vielen Sinnsprüche seines Vaters. Die erste Erinnerung dieses Tages, die Hagen Freude bereitete. So sehr er die Sprüche seines Vaters und alles was dahinter stand auch verachtete, hier schien er Recht zu behalten. Der Gedanke, dass sein Erzfeind Christian genau das vom Leben bekommen hatte, was Hagen angemessen und gerecht schien, zerknüllte die Erinnerungen in Hagens Kopf, warf sie in den Papierkorb zu den anderen und modellierte ein fettes Grinsen auf seinem Gesicht.
„Du bist ja gar nicht son Spießer.“
An die Wand des Dorfkruges gelehnt stand einer der Freaks von Siegfrieds Beerdingung und rauchte betont cool eine Zigarette. Er war Hagen schon auf dem Friedhof aufgefallen, weil er ihn dauernd an einen Pornostar erinnerte, auf dessen Namen er einfach nicht kommen wollte.
„Das bin ich ganz bestimmt.“
Diese coole Raucherpose wirkte auf Hagen peinlich und pubertär. Aber das schien wohl zu diesem Tag dazuzugehören.
„Jedenfalls wenn Siegfried das gesagt hat.“
Der Typ inhalierte den Rauch seiner Kippe, als wollte er seine Lungenbläschen, wie Knallerbsen zum Platzen bringen. Es dauerte fast sieben Sekunden, bis er den Rauch durch seinen geöffneten Mund wieder aus sich rausströmen ließ. Hagen hatte die Zeit stumm aber genau mitgestoppt. Wie im Kindergarten, grinste er in sich hinein.
„Was veranlasst Sie zu der Annahme, dass ich entgegen Siegfrieds Behauptungen, kein Spießer bin?“
Hagens Gegenüber stemmte lässig sein rechtes Bein gegen die Wand und schnipste die Kippe mit zwei Fingern geschätzte zwei Meter weit auf die Strasse. Nur schwer konnte sich Hagen angesichts dieser neuen Posenvariante ein Grinsen verkneifen. Hätte der Typ in diesem Moment nach seinem Pferd gepfiffen und wäre in den nicht vorhandenen Sonnenuntergang geritten, es hätte Hagen nicht sonderlich irritiert.
„Die Golden Shower Aktion gerade, die war schon krass.“
Golden Shower Aktion? Hagen betete, nur dem Doppelgänger des Pornostars, dessen Name ihm immer noch nicht einfallen wollte, gegenüberzustehen. Es würde ihn verunsichern mit einem Mann zu reden, auf den er sich ab und an einen runterholte. Ihn darauf anzusprechen und den Sachverhalt zu klären, traute sich Hagen nicht.
„Ich hatte vermutet, Sie seien schon längst des Friedhofs verwiesen worden, als ich mich zu dieser Golden Shower Aktion hinreißen ließ, wie Sie es so schön nennen.“
Während Hagen sprach lief seine Lieblingsszene mit dem namenlosen Pornostar vor seinem inneren Auge ab. Kaum hatte er den Satz beendet, fiel ihm auch wieder der Titel ein. Deepthroat Inferno. Genau. Golden Showers kamen darin nicht vor. Hagen hoffte inständig, der Kerl möge nicht auf den Gedanken kommen, noch eine Zigarette zu rauchen und sich diese in den Mund zu stecken.
„Schon, aber ich bin wieder zurückgekommen, um den Song zu Ende zu singen. Hab ich Siggi versprochen. Aber dann fand ich deine Aktion eigentlich noch besser. Ich bin Kilian.“
Kilian. Kilian. Da klickte gar nichts. Allerdings konnte Hagen sich auch nicht vorstellen, dass Pornodarsteller unter ihrem richtigen Namen vögelten. Jedenfalls nicht vor der Kamera.
„Hagen, ich bin Siegfrieds Bruder.“
„Weiß ich doch. Schöner Schwanz übrigens.“
Die aufsteigende Röte in seinen Wangen, ärgerte Hagen maßlos. Er setzte das arroganteste Gesicht auf, das ihm möglich war. Kilian bot ihm eine Zigarette an, die Hagen wortlos nahm. Immer schön cool bleiben, dachte er. Der Kerl will dich nur provozieren. Warum auch immer.
Hagen suchte in seinen Taschen nach einem Feuerzeug, obwohl er wusste, dass er keines besaß.
„Und nein, ich bin es nicht.“
Kilian hielt Hagen ein Feuerzeug hin.
„Ich rauche eigentlich nicht. Aber heute.“
Hagen zündete sich die Zigarette an und nahm einen Zug. Ihm wurde zwar etwas schwindelig, aber er musste nicht husten.
„Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht ganz folgen. Wer sind Sie nicht?“
„Daniel Rohr. Ich hätte mir definitiv einen weniger bescheuerten Namen gegeben.“
Die Schamesröte, die sich bis gerade eben entschieden hatte, sich allmählich wieder von Hagens Wangen zu verabschieden, legte den Rückwärtsgang ein und bedeckte sein Gesicht großflächig.
„Wie kommen Sie darauf, dass ich Sie mit Daniel Rohr verwechselt habe?“, entgegnete Hagen mit der restlichen Containance, die ihm verblieb.
„Na ja, wenn du mich anstarrst und Deepthroat Inferno vor dich hinbrabbelst, kann man schon drauf kommen.“
Kilian grinste fast im Kreis, als ob er keine Ohren besäße.
„Das muss dir aber nicht peinlich sein. Das passiert mir öfter.“
Hagen zog an der Zigarette, warf sie auf den Boden und trat sie etwas ungeschickt aus.
„Außer vielleicht der Tatsache, dass du am Tag der Beerdigung deines Bruders an Pornos denkst.“
Hagen war entschlossen Kilian mit einem vernichten Blick zu strafen. Er sammelte all die Wut, die in den letzten Tagen, seit er von Siegfrieds Tod erfahren hatte, in ihm aufgetaucht war und legte sie in diesen einen Blick. Doch als er in Kilians feixende Augen sah, verweigerte ihm seine Wut den Dienst. An ihrer Stelle hörte Hagen klar und deutlich zum zweiten Mal an diesem Tag Siegfrieds Stimme flüstern und seine Stimmbänder machten sich singend selbstständig.
„The bible ist he book. Jesus the friend. All the king´s horses kill all the king´s men.”
Kilian hatte genau wie Hagen Tränen in den Augen. Lächelnd sangen sie weiter.
„The next thing to murder. The next thing to murder. Prepare ye. Prepare.”