Stundenglas
Stundenglas
Der Sand verrinnt, die Zeit vergeht. Viel zu schnell. Doch solange noch etwas Sand übrig ist und sich unermüdlich den Weg durch das Stundenglas bahnt, kann ich mit euch reden. Aber es bleibt uns nicht mehr viel Zeit. Mit dem Aufgang der Sonne wird das letzte Sandkorn fallen und dann ist es zu spät. Es wird sich alles verändern und genau darum will ich die wenige Zeit, die uns noch bleibt, dazu nutzen euch meine Geschichte zu erzählen.
Es ist schon sehr lange her, doch ich sehe das zerfurchte Gesicht mit dem weißen Bart und den wachen blauen Augen so deutlich vor mir, als hätte ich meinen Großvater erst gestern wieder gesehen. Ich erinnere mich genau an den traurigen Ausdruck in eben diesen, sonst so unergründlichen Augen, als er an jenem Mittag den Kopf hob und mich ansah.
?Sie aus dem Fenster, Alexander,? sagte er schließlich leise, aber doch eindringlich zu mir.
Seine Stimme hatte einen ungewohnt rauen Klang, der mir den Ernst seiner Worte nur noch deutlicher machte. Doch ich war nur ein kleiner Junge und kleine Jungen sind es nicht gewohnt Dinge zu tun, die sie nicht verstehen, ohne sie zu hinterfragen. Und ich war nicht anders.
?Warum, Großvater? Was ist dort?,? fragte ich. Der Alte antwortete nicht gleich, sah mich nur weiter mit diesem unendlich traurigen Blick an, der mir eine Gänsehaut verschaffte. Ich schlug die Augen nieder und rieb mir fröstelnd über die nackten Arme. Es war Sommer.
Erst als ich mich schon umdrehen und das Zimmer verlassen wollte, brach mein Großvater wieder die Stille.
?Sieh aus dem Fenster, Alexander, und sag mir was du siehst.? Ich schauderte wieder, wie schon zu vor beim Anblick seiner Augen, nur das es jetzt seine Stimme war, die die Gänsehaut sich formen ließ. Dieses Mal fragte ich nicht nach. Etwas hielt meine Stimme im Zaum. Vielleicht das gleiche Etwas, das mich wie magisch zum Fenster zog. Ich spürte deutlich den Blick meines Großvaters im Rücken.
Ich trat ans Fenster und stütze mich mit den Handflächen am Rahmen ab. Meine Beine fühlten sich merkwürdig weich an und ich hatte das Gefühl, als könnte sie mein Gewicht nur noch mit größter Mühe tragen. Ich hatte Angst zu fallen. Doch ich fiel nicht. Ich stand einfach nur da. Langsam drehte ich meinen Kopf. Zuerst sah ich nur mein eigenes Spiegelbild in der Scheibe. Blass, verwirrt und irgendwie fremd.
?Sieh hinaus,? sagte die Stimme meines Großvaters hinter mir. Es muss zumindest seine Stimme gewesen sein, es kann nur seine gewesen sein, und doch könnte ich noch heute schwören, dass es die Stimme eines Fremden war. Ich wollte mich umdrehen, doch wieder war da dieses Etwas, das mich daran hinderte.
Ich löste den Blick von meinem Spiegelbild und sah hinaus. Alles war wie immer. >Nein, alles scheint wie immer zu sein<, sagte eine Stimme in meinem Kopf.
?Was siehst du, Alexander? Sag mir was du siehst.?
Schweigend betrachtete ich die riesigen, uralten Bäume, die ich schon in meiner frühsten Kindheit wegen ihrer Größe und ihren wunderschön geformten Blättern ehrfürchtig bewundert hatte. Sie waren in den verschiedensten Grüntönen gekleidet. Wie jeden Sommer. Trotzdem spürte ich deutlich das etwas nicht stimmte. Ich beugte mich vor, so dass meine Nasenspitze die kühle Scheibe berührte. Splitter des hölzernen Fensterrahmens bohrten sich in das empfindliche Fleisch meiner Handfläche. Ich ignorierte den Schmerz. Vielleicht, weil ich ihn nicht fühlte.
Dann fiel es mir auf. Die Bäume veränderten sich, zuerst kaum merklich, dann immer rascher. Es fing in den Spitzen der Blätter an und pflanzte sich wie eine Krankheit über den Rest des Baumes fort. Wenn es den Boden berührte, sprang es auf das Gras und die andern Pflanzen über. Nicht einmal der rote Schubkarren und der zerbeulte Blecheimer blieben verschont.
Als ich sprach zitterte meine Stimme.
?Die Bäume...das Gras...alles...sie verlieren ihre Farben!?
Mein Großvater antwortete nicht. Draußen, vor der Fensterscheibe fiel eine Blume in sich zusammen. Ich hatte sie erst vor einer Woche von meiner Tante zum Geburtstag geschenkt bekommen.
Fassungslos starrte ich das Häufchen an, das von Sekunde zu Sekunde mehr zu Staub zerfiel. Es dauerte noch ein paar weitere Sekunden, bis ich schließlich begriff.
?Sie verlieren ihre Farbe nicht,? flüsterte ich heiser. ?Sie...sie sterben!? Ich riss meinen Blick vom dem, was ein mal ein wunderschöner Garten gewesen war los. Was immer mich bis jetzt gefesselt und mich bewegungslos gemacht hatte, es ließ mich gehen. Ich wand mich zu meinem Großvater um. Auch er schien plötzlich um Jahre gealtert zu sein.
?Ich weiß, Alexander. Sie sterben. Alles stirbt.? Er nahm meine Hand und zog mich zu sich. Erst jetzt wurde mir bewusste, dass ich am ganzen Körper zitterte. ?Aber nicht jetzt. Nicht heute, nicht in diesem Jahr.? Er fuhr mit seiner Hand über meine Wange. Als er sie zurück zog, glitzerten an seinem Finger Tränen. Sie fielen lautlos zu Boden.
?Aber ich habe es gesehen...Der Garten...alles ist tot!? Ich schrie fast, so grenzenlos war meine Verzweiflung. Aber mein Großvater schüttelte nur den Kopf.
?Sieh noch ein mal nach draußen.? Ich folgte ängstlich seiner ausgestreckten Hand, der Garten draußen vor der Fensterscheibe war der selbe, in dem ich noch am Morgen Fußball gespielt hatte.
?Aber...?
?Ich weiß, was du gesehen hast, Alexander, denn ich sah das selbe, als ich in deinem Alter war. Mein Großvater hat es mir gezeigt, so wie ich es dir heute gezeigt habe. Aber es ist nicht real. Du hast nicht die Gegenwart gesehen. Das war die Zukunft. Die Zukunft, die wir Menschen uns schaffen.? Der Alte machte eine Pause und holte tief Luft. Ich wagte nicht zu atmen. ?Versprich mir, dass du es verhindern wirst.? Ich nickte. ?Nein, Alexander. Versprich es! Du musst die anderen davon überzeugen, dass es falsch ist, was sie tun. Versprich es!?
Meine Kehle war trocken. Ich fuhr mir mit der Zunge über die Lippen. ?Ich verspreche es, Großvater!?
Statt einer Antwort griff der Alte hinter sich und hielt plötzlich ein silbernes Gefäß in der Hand. Erst auf den zweiten Blick wurde mir klar, dass es ein Stundenglas war.
?Nimm es, mein Sohn. Es zählt die Zeit der Welt. Ich habe es nicht geschafft zu verhindern, was kommen wird. Nun ist es an dir. Meine Zeit ist bald abgelaufen. Die Zeit der Menschen erst, wenn das letzte Sandkorn fällt. Dann wird sich herausstellen, wer die wahren Herren dieser Erde sind.?
Vorsichtig berührte ich das kalte Glas mit meinen Fingern. Der Sand rieselte ohne Pause.
Auch ich bin im Laufe der Jahre alt geworden. Und ich weiß jetzt, ich bin der letzte, der dieses Stundenglas hüten wird. Mein Schicksal ist besiegelt, genauso wie das Schicksal aller Menschen. Ich habe gekämpft, aber hatte ich mehr Erfolg als mein Großvater? Die Wahrheit liegt in den Sandkörnern, die unermüdlich hinter dem Glas vor sich hin rieseln.
Ich sehe aus dem Fenster. Weit entfernt am Horizont zieht sich ein heller Streifen entlang. Ich spüre das Gewicht des Stundenglases in meiner Hand. Die Zukunft hat begonnen, ich kann sie nicht mehr aufhalten. Ich kann nur noch hoffen und beten