PimpfentagePfadfinder... Ich erinnere mich an nicht viel aus meiner Vergangenheit, aber ich glaube ich habe keines meiner Lager vergessen. Damals…Wie oft denke ich in diesen Tagen an die Zeit zurück, wie sehr vermisse ich sie. Die Welt erdrückt mich. Beide Welten erdrücken mich. Ich habe Sehnsucht. Damals…1995. Damals war ich in der 3. Klasse. Damals musste ich zum Kieferorthopäden. Damals war ich ein Pimpf. Kaum zu glauben. Heute.
Meine erste Sippenstunde. Ich war so schüchtern und ängstlich. Ich kannte keinen. Sie nahmen mich so, wie ich war. Und so blieb ich anstatt wie sonst weg zu laufen. Wir bastelten und spielten viel. Wir lernten uns kennen. Viele verließen uns bald wieder. Unsre Sippenführerin wurde zu einer Art große Schwester. Sie war auch erst fünfzehn. Mein erstes Lager. Zu diesem Zeitpunkt waren wir noch sieben von ehemals zwölf. Zumindest so ungefähr. Uns wurde gesagt es sei ein Gauwölflingslager. Wir wussten weder was der Gau, noch was Wölflinge waren. Später, als ich schon fast allein war, verstand ich erst, das ich nie ein Wölfling sein konnte, denn in unsrer Siedlung gibt es bis heute keine Wölflinge. Aber zum Zeitpunkt dieses Lagers, es war genau um die Eisheiligen, das weiß ich heute noch, weil wir in unseren Aldi-Schlafsäcken furchtbar frohren, waren wir völlig Halstuch- und Ahnungslos. Es war das erste mal, das wir andere Pfadfinder trafen, es war das erste mal, das wir Kohten sahen. Unsere Hochkohte halfen wir begeistert aufbauen. Was wären wir ohne ein paar unserer Älteren gewesen? Wenn ich heute zurückdenke…was hatten wir nicht alles Unnütz dabei. Ich will mich selbst nicht ausnehmen, denn es dauerte doch noch eine Weile, bis ich meinen Rucksack ganz alleine packte. Das Thema dieses Lagers hatte irgendetwas mit den Zeitvätern zu tun, das weiß ich noch. Es gab eigentlich das ganze Wochenende nur Reis zum essen. Das Spiel war phantastisch. Wir, zumindest ich war zufrieden, wenn auch vielleicht ein bisschen eifersüchtig, das ich eine von uns als Lieblingskind unserer Sippenführerin herausgestellt haben könnte. Ich frage mich, ob ich das bis heute etwa behalten habe. Diese Angst, meine Sippenführerin, die ich immer verehrt und bewundert habe, könnte mich…ich weiß es nicht…übersehen? Vergessen? Nicht respektieren? Nicht mögen? Aber das spielte zu dieser Zeit kaum eine Rolle. Ich rannte mit den anderen durch den Wald. Wir kugelten um die Wette die Wiesen hinunter. Jeder mit jedem. Es gab keine Außenseiter. Die kamen erst Nachts in Gestalt von Jugendlichen, die mit Leuchtmunition das Lager überfielen. Heute würden wir lästern: Zivilisten. Ich hatte das Gefühl, die anderen Kinder schon mein Leben lang zu kennen. Ich kann mich an keine Gesichter oder Namen mehr erinnern. Die meisten werden wohl gegangen sein. Einige kenne ich heute vermutlich besser als mir manchmal lieb ist. Und dann waren da noch Siedlungsabende. Verstreut übers Jahr. Viele Ältere und wir Pimpfe mitten drin. Wir haben gelacht, gesungen, getanzt, gespielt. Mich mit meinem Bruder gestritten. Mich gegen die Älteren gewehrt. Viel habe ich manchmal auch etwas schmerzhaft lernen müssen. Im El Shalom, dem beste Sippenheim, das sich eine Siedlung nur wünschen konnte. Siedlungsabende im Wäldchen, das war selbst vor meiner Zeit. Als der Herbst kam waren wir nur noch drei und ich ging als einzige mit auf den Gautag. Ich hatte auch kein Problem damit quer durch die Weinberge mit einem Rucksack auf dem Rücken zum Bahnhof in einen Nachbarort zu laufen. Ich trottete den Großen stolz hinterher. Ich war eine von ihnen, wenn auch ohne Halstuch. Noch nie zu vor hatte ich Abends um elf in einem dunklen Zelt im Kerzenlicht Salat gegessen. Ich freute mich bis in tief in die Nacht wach zu bleiben, am Feuer zu sitzen, die Lieder zu hören. Mitsingen konnte ich noch nicht, alles war ja neu. Das Spiel am nächsten Tag ist mir nur in vager Erinnerung. Was ich jedoch weiß, ist das ich meine Kluft bekam. Sie war einem der Älteren zu klein geworden. Fast genauso gut erinnere ich mich an das Hornissennest. Und an den Ingel, der sich für mich schlug, als der Professor sich auf mich stürzen wollte. Vielleicht war ich ein bisschen frech, aber keiner nahm es mir wirklich übel. Wir waren eine Familie und ich als Nesthäkchen durfte so gar mit Nachtwache halten. Aber wo war meine Sippenführerin auf diesem Lager? Ich weiß sie war da, aber meine Erinnerung zeigt mir keine Bilder von ihr… Oder war sie doch nicht dort? Andererseits: hätte sie einen 10 jährigen Pimpf alleine gelassen? Die Zeit verrann. Lager kamen und gingen. Waldweihnachten voller Schnee und meterdickem Matsch unter den Schuhsolen, die Hosen steif wie Bretter. Und trotzdem gingen wir in die Kirche. Es war mit die glücklichste Zeit meins Lebens. Ich fühlte mich verstanden und akzeptiert. Etwas, das ich in der Schule meist nicht fand. Pfadfinder wurde zu meinem Leben. Ich war schon viel zu tief darin verstrickt, das ich noch hätte loslassen können. Ich hätte alles dafür aufgegeben, nur um weiter frei sein zu dürfen. Als schließlich nach einem oder zwei Jahren ich das einzige Überbleibsel meiner einst recht großen Sippe war, kamen mein Bruder und meine Nachbarin. Dann mehr Freunde meines Bruders. Aus der Mädchensippe wurde eine Gemischte Sippe. Wir waren die Horte Troll. Sinicca ging schließlich für drei Monate nach Frankreich und wir blieben zurück bei Igel und Zopf. Meine einzigen Erinnerungen aus dieser Zeit sind Igels Geschichten über den Panzer, den er im Rhein versenkt hat und das Lager im Schwimmbad am See. Mit dem Winter kam die Waldweihnacht und meine Sippenführerin zurück. Endlich bekamen auch wir Halstücher. Rostbraune. Wir waren Amanjare, keine Wölflinge. Und Professor wurde Jungpfadfinder. Die Siedlung versammelt ums Kreuz im Wäldchen. Der Schlamm klebte uns wiedereinmal an den Schuhsohlen. Das Feuer brannte in unserem Kreis. Wir frohren, trotzdem zogen alle die Jujas aus, wie es sich bei einer Aufnahme gehört. Aber auch meine Nachbarin ging irgendwann. Übrig blieb ich und mit mir drei Jungs. Im Prinzip hatte ich meine Sippenführerin für mich. Lange Zeit dachte ich, wir wären Freunde. Ich erinnere mich noch gut an eine spätere Waldweihnacht, die wir in Igels Garten verbrachten. Mein Kopf lag auf meiner Sippenführerin Schoß, ich schlief schon fast. Sie sorgte sich mit Nudel und Zopf um meine Zukunft in einer Jungensippe. Ich wurde vierzehn und meine Sippe getrennt. Igel übernahm die Jungs, ich blieb mit meiner Sippenführerin zurück, um eine neue Sippe zu gründen, in der ich Co-Sippenführerin sein sollte. Statt Sippenführerin wurde ich überflüssig. Ein sinnloses Anhängsel. Die glücklichen Zeiten waren vorüber, auch wenn ich es nicht wahr haben wollte und immer noch nur die halbe Wahrheit der Pfadfinder kannte. Mit dem Gau oder anderen hatte ich wenig zu tun. Die Älteren unsrer Siedlung begannen sich rar zu machen, dennoch waren sie da. Irgendwo im Hintergrund. Ich war stolz, als meine Sippenführerin die Siedlungsführung übernahm. Aber sie war ja schon nicht mehr meine Sippenführerin. Dann kam bei meiner Sippenführerin das Abi. Sie ging irgendwohin, ihre Sippe löste sie auf. Mich vergaß sie und Igel wurde Siedlungsführer. Die Jungensippe lebte als einzige weiter und die übrigen Älteren waren bald völlig aus unserem Sichtradius verschwunden. Igel musste weg und Professor übernahm. Ich war bei den Jungs geduldet, aber passte nicht hinein. Ich zog mich schließlich zurück. Keine schöne Zeit. Die Sehnsucht nach Freiheit zehrte an mir. Der erste Versuch aus dieser Isolation aus zu brechen startete ich nach ungefähr einem Jahr ohne Lager. Eine Fahrt nach Frankreich sollte es sein. Es wurde fast ein Fiasko, aber in dieser Nacht habe ich Dunkelheit und Regen fürchten und den Sonnenaufgang schätzen gelernt. Der zweite Versuch zog mich endgültig zurück in die Welt der Pfadfinder. Es war ein Pfingstlager in dem Jahr, als ich 16 wurde. Das Lager auf dem ich meine zukünftigen Begleiter durch die Pfadfinderwelt kennen lernte. Sie waren ebenso wie ich fast selbst noch Pimpfe, mit dem Unterschied, das sie grade eigene Sippen bekommen hatten. Nach diesem Lager ging ich wieder in die Sippenstunde der Jungs, die Igel wieder leitete. Ich war zurück und noch immer Amanjar. Dann trat der Gau urplötzlich in mein Leben, nicht viel später als dieses Lager, auf einem Singerwochenende, das bei uns im El Shalom statt fand. Aber noch spielte ich für ihn keine Rolle. Noch war ich ein unbedeutendes…noch immer ein Anhängsel. Die Augen der Gauführung lagen auf dem Franzosen. Er sollte seine eigene Sippe führen, er sollte der nächste Siedlungsführer sein. Meine Siedlung lag im Sterben. Keiner hatte mit mir gerechnet, als ich nach dem Sippenführerkurs im Herbst zwei Sippen gründete. Die Jungs bekamen mein Bruder und Franzose. Sie wurden zur Sippe Manetheren. Die Mädchen blieben bei mir. Meine Sippe Gan Mischpad. Igel und ich teilten die Siedlungsführung. Reanimation geglückt. Endlich bekam ich auch mein blaues Halstuch, doch es war nicht so, wie es hätte sein sollten. Es war nicht so, wie ich es aus meiner Pimpfenzeit kannte. Es kamen Sippenstunden. Es kamen Lager. Ich wurde die Siedlungsführerin, wenn auch etwas wiederwillig, denn ich hatte diesen Posten nie angestrebt. Andererseits hatte ich auch nie beabsichtigt eine eigene Sippe zu haben. Ich übernahm beides ohne Murren. Die Siedlung sollte leben. Der Gau nahm es schweigend hin. Nur ein einziger faste jemals in Worte was uns geglückt war: der scheidende Gaukanzler zwei Jahre später. Heute habe ich das Gefühl, er ist der einzige, der unseren Kampf wirklich bemerkt hat und stolz auf unsern Erfolg war. Die Siedlungsführung bestand aus drei Jungpfadfindern, fast selbst noch Kindern. Ansonsten gab es nur noch Pimpfe. Keiner der Älteren blickte auf uns zurück. Nicht meine Sippenfüherin. Kaum Igel.
In den folgende Jahren sollte ich die Hintergründe kennen lernen, erfahren, wer der Gau wirklich war und heute frage ich mich, ob die Friedlichkeit meiner Pimpfenzeit je bestanden hat, oder ob ich das wahre Gesicht einfach nicht gesehen habe, weil meine Sippenführerin mich davor schütze, so wie ich heute meine Pimpfe schütze. Ich blicke zurück auf zehn Jahre und halte noch immer fest an dem, an das ich vor zehn Jahren glaubte. An die Gemeinschaft, an die Freiheit, an die Unterstützung und Freundschaft meiner Sippenführerin. Doch wenn ich heute auf Lager gehe, ist all das nicht mehr da. Ich kann es meinen Pimpfen eigentlich nicht verübeln, das sie murren. Eine Sippenführerin habe ich schon lang nicht mehr. Nicht einmal mehr eine ehemalige. Ich habe dafür gekämpft meinen Pimpfen zu vermitteln, was Pfadfindersein bedeutet, doch ich fürchte ich muss einsehen, das es keine Bedeutung mehr hat. Noch vor einem Jahr habe ich geglaubt, wenn wir uns nur bemühen, wenn wir zeigen, wer wir und zu was wir fähig sind, könnten wir das Schicksal wenden und wir würden wieder zu dem werden, was wir eins waren, aber in diesen Tagen muss ich einsehen, das es ein Irrtum war. Wir haben gekämpft. Doch wir haben nicht gesiegt. Mein Kampf ist verloren. Ich sehne die alten Zeiten zurück. Damals, als die Welt noch in Ordnung war. Damals…es ist kaum zehn Jahre her und ich frage mich, wie es so weit kommen konnte, das alles verschwunden ist, was mir so wichtig war. Ich weiß es gibt diese Zeit nicht mehr, aber ich kann nicht loslassen. Ich würde am liebsten aufgeben, doch wenn ich aufgebe und meine Hand öffne um los zu lassen sterbe ich. Kein Pfadfinder mehr zu sein heißt für mich nicht länger zu leben. Es liegt uns im Blut. Es liegt mir im Blut. Ohne Blut ist der Mensch nur noch eine leere Hülle. Ohne Blut bin ich tot. Dies ist meine feste Überzeugung und dennoch habe ich meinen Griff jetzt gelockter. Ich bin Pfadfinder geworden um glücklich zu sein. Pfadfinder bleiben, so wie ich heute bin wird mich ebenfalls töten. Ganz langsam und leise. Heiße Tränen der Wut, der Trauer, der Resignation rinnen über meine Wange, jetzt, wo ich endlich die Wahrheit sehen kann. Die Wahrheit, die sich bisher hinter Wunschträumen und Sturheit versteckt hatte: Die Pfadfinder, die die dieses Leben im Blut hatten sterben. Und ich mit ihnen. Für uns ist kein Platz mehr in dieser neuen Welt. In diesen Tagen versuche ich das Amt der Siedlungsführerin ab zu legen und stelle mich der Realität, in der Hoffung, das ein anderer das retten wird, was noch zu retten ist. Vielleicht wir eines Tages die Welt und Mentalität der Pfadfinder wieder auferstehen. Vielleicht wird es einer unserer Pimpfe es sein, der die letzte Glut wieder zum Feuer schürt. Wenn es eine meiner Pimpfe sein sollte, werde ich stolz auf sie sein. Ich mag zwar äußerlich kapituliert haben, aber ich werde immer noch die Sippenführerin meiner Pimpfe sein. Im Moment hoffe ich nur, das ich stark genug bin, den Gau hinter mir zu lassen, der mir besonders im letzte Jahr so viel Schmerz und Frustration beschert hat. Dennoch weiß ich: meine Siedlung braucht mich und ich werde sie nicht völlig im Stich lassen. Es bleiben Fahrten und Siedlungslager. Es bleibt mir meiner Erinnerung. So soll die Zukunft sein. Ich bin vielleicht geschwächt, aber noch nicht tot. Und so lange es sich lohnt zu kämpfen, werde ich da sein. Meine Sehnsucht nach Freiheit ist zu groß. Jemand, der einmal von ihr gekostet hat, lässt sie nie wieder los. Sei es auch nur eine kurze Zeit vor vielen Jahren gewesen.
Ich bin hoffnungslos gefangen. Sehnsucht. Fernweh. Es liegt uns im Blut, es treibt uns davon. So lange einer von uns nur lebt.
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