Der glückliche König
Es war spät. Ich wußte, wenn ich nicht sofort das Haus verließ, käme ich zu spät. Doch ich hatte gerade erst die Zahnbürste im Mund. Also würde es noch eine Weile dauern. Der Spiegel zeigte darüber hinaus ein verwirrtes Bild: Blondes, krauses Haar, das keinen Stromstoß benötigt hätte, ein paar dunkle, ebenso krause Haare am Kinn, die ich ungern einen Bart nenne würde. Auch blaue Augen, die mit dunklen, tiefen Ringen geschmückt waren.
\"Und nun folgen die Auslandsnachrichten,“ erklärte mir mein Radio.
Frankreich: Die Pariser Polizei gibt bekannt, daß um 4 Uhr 35 in der gestrigen Nacht ein spektakulärer Diebstahl stattfand. Gestohlen wurde ein französischer Nationalschatz. Innerhalb von sieben Minuten raubten die drei Männer und vier Frauen die Notre-Dame. Die Pariser Polizei sah nur noch die Rücklichter eines großen Wagens. Ein Großaufgebot an Staatsdienern riegelte die gesamte Stadt ab. Doch bis jetzt tappen sie noch völlig im Dunkeln. Die Menschen stehen entgeistert, entsetzt und verängstigt am schwarzen Loch, auf dem die Kirche stand. Tränen, Flüche und Racheschwüre steigen in den Himmel über Paris auf. Die Polizei geht davon aus, daß die Kirche die Stadt nicht verlassen hat.\"
\"Sie müßte in Einzelteilen verkauft werden,“ gab ich in Richtung des Radios zu bedenken. „Die Säulen, die Strebefenster, die Türme. Alles einzeln. Es gibt bestimmt auch Sammler für gotische Kirchen.\"
Verdammt, ich mußte endlich das Haus verlassen. Ich konnte mich nicht mehr mit dem Radio beschäftigen. Ein letzter Blick in den Spiegel sagte mir, daß ich verwirrt aussah wie immer.
\"Ich wünsche der Stadt Paris und dem französischen Volke den Mut und das Glück, die Kirche wiederzufinden.\"
\"Danke,\" kam es aus dem Radio.
Ein Knopfdruck, und es erstarb.
Hastig verließ ich die Wohnung im zweiten Stock. Hinter mir schlug die Tür hart ins Schloß.
Die Treppe wurde im Flug genommen. Ich berührte nicht einmal die Stufen. Die gläserne Haustür gab leicht nach. Klirrend fiel sie hinter mir dann wieder ins Schloß. Jedoch benötigte die schwere, beschlagene Holztür etwas mehr Kraft. Ich mußte mich dagegenwerfen.
Eine ungewöhnliche Kühle schlug mir entgegen. Auch der ausgetretene Boden, auf den ich meinen Blick geheftet hatte, ähnelte nicht der Straße vor dem Elfgeschosser. Eine milde Dunkelheit ließ mich aufsehen. Durch ein atemberaubendes Rosettenfenster direkt über meinem verwirrten Kopf fiel ein Kaleidoskop von Farben in den hohen Raum.
Ich schüttelte den Kopf. Mit hochgezogenen Schultern lief ich unter dem sechsteiligen Gewölbe entlang. Die fünfschiffige Emporenbasilika verwirrte mich überhaupt nicht.
Licht fiel durch die Rundfenster in das stille Hauptschiff.
Plötzlich vernahm ich ein Geräusch. Ich blieb unvermittelt im Mittelgang zwischen den Bänken stehen.
Ein Pfeifen konnte ich hören. Ein Pfeifen, unterbrochen von einem unregelmäßigen Keuchen. Ich glaubte sogar, eine Melodie zu erkennen. Ein weiteres Geräusch folgte. Es war eine alte englische Weise. Das Keuchen setzte wieder ein; diese Töne mußten der Person schwer zu schaffen machen. Jedenfalls war ich nicht allein in dieser Kirche.
Denn langsam kroch in mir das Wissen hoch, daß ich mich in mitten der Pariser Notre-Dame befand. Das imposante gotische Gemäuer hatte ich zwar schon immer einmal besuchen wollen, doch nicht während eines hektischen Morgens.
Ich folgte den gequälten Geräuschen. Den Körper mittlerweile erwartungsvoll nach rechts gebeugt, ging ich durch die Bänke auf das rechte Seitenschiff zu. Dort umrundete ich einen hohen Rundpfeiler. Doch ich sah nichts Auffälliges, bis ich im andächtigen Halbdunkel an ein Holzgerüst stieß. Ich trat einen Schritt zurück und schaute in Richtung des Gewölbes. Über meinem Kopf kniete die Quelle der Geräusche. Ein kräftiger Mann mittleren Alters strich mit einer saftigen Speckschwarte über das Gewand eines selig lächelnden Heiligen. Geradezu liebevoll streichelte er die Plastik, die an den bearbeiteten Stellen überirdisch glänzte. Die Augen, das Lächeln, die Hände erstrahlten bereits. Noch immer pfeifend sah der Arbeiter seiner Schöpfung in das weißglänzende Gesicht. Er richtete sich auf. Die Speckschwarte warf er auf den Kirchenboden und hätte mich damit beinahe getroffen. Mit weiten Augen starrte ich auf das glänzende Etwas zu meinen Füßen.
Der Mann seufzte auf; er strich sich genüßlich über den stattlichen Bauch. Nun wandte er sich um.
Er war herrschaftlich gekleidet. Pelzbesatz, Goldinsignien und edle Stoffe. Ich schätzte früher Tudorstil. Ich erkannte den Mann!
\"Heinrich! Heinrich, der achte! König von England!\"
\"Ja?\" Seine klaren Augen wandten sich mir zu.
Ich sprang immer wieder am Gerüst hinauf; denn ich wollte ihn an seinem kräftigen Handgelenk packen. Dabei mußte er sich zwangsläufig zu mir herunterbeugen, so daß er eine krumme, lächerliche Gestalt ergab. Seine Augen waren benebelt, sein Grinsen schief. Währenddessen versuchte ich, ihn an seinem linken Arm vom Holzgerüst zu ziehen. Ich stemmte meine Füße gegen das Gerüst, war er doch ein allzu stattlicher Mensch. Nur kurz wehrte er sich, dann ließ er sich mir entgegenfallen. Sein runder Kopf traf den meinen, ansonsten flog er über mich hinweg und kugelte gegen die Wand des Seitenschiffes. Ein dumpfes Geräusch und ein zartes Klingeln ertönten in der Kirche. Wir beide ächzten gequält auf.
Für einen kurzen Augenblick verspürte ich den sehnsüchtigen Wunsch, mich zu kneifen und dann nur die Beine in die Hand zu nehmen.
\"Majestät! Euch ist bewußt, daß Ihr seit nunmehr 450 Jahren verschieden seid. Und daß die Kathedrale Notre-Dame nicht in Marzahn stehen sollte\", wandte ich mich an den König.
\"Tot? Ihr beliebt zu scherzen. Gerade vollendete ich mein Werk. Mit dieser Kirche setze ich mir ein Denkmal. Ich errichtete sie, damit die Menschen an diesem Ort heiligen Frieden und göttliche Erleuchtung erfahren.\"
\"Deshalb glänzen die Heiligen so,\" bemerkte ich beiläufig.
\"Genau deswegen! Ihr steinernes Antlitz sieht auf die Menschen herab. Ihre Ideale werden noch in Jahrhunderten über uns hängen, auch wenn sich alles andere ändern wird. Alte Ideale der Menschlichkeit, die sie zu Heiligen macht, uns aber, die die Martyrien nicht verstehen, da wir in unserer kleinen Welt leben, machen sie zu unbedeutenden kleinen Kreaturen der Geschichte. Dieses Bauwerk huldigt ihr Tun, das, wenn auch oft bedeckt durch das Blut unschuldiger Ungläubiger, ein Überwältigendes ist. Wir werden ihr Tun nie verstehen, auch nicht würdigen können. Hört Ihr die leisen, ehrfürchtigen Stimmen der Gläubigen?\"
\"Sie ist ein gotisches Bauwerk. Seht das Rosettenfenster, das Kreuzrippengewölbe, die Fenster mit dem Maßwerk! Ein Meisterwerk der französischen Architektur.\"
\"Ich weiß. Und sie ist mein Werk.\"
Mit ausgebreiteten Armen drehte sich der König durch die Bänke, bis er inmitten des Hauptschiffes stehenblieb.
\"Nur durch meine Hände entstand die Kirche. In meinem Kopf sah ich sie genau an diesem Platz stehen. Ich hatte eine göttliche Vision. Ich arbeitete vollkommen allein. Nur ich und die Heiligen! Wartet, ich möchte Euch etwas zeigen. Wißt Ihr, wie ich den Schlußstein in das Gewölbe der Seitenschiffe tat?\"
Der König hüpfte und drehte sich vor meinen Augen wie ein bunter Ball. Sein Gesicht war vor kindlicher Freude mit roten Flecken übersät.
\"Seht dieses Gewölbe. Ist es nicht ein außerordentlicher Anblick. Ein steinerner Himmel, von Menschenhand erschaffen.\" Er klatschte in seine großen Hände. \"Ich spannte ein starkes Seil, Ihr wißt, ein solches, das auch die Schiffer benutzen, zwischen die Fensterkreuzen und die Kapitelle der Pfeiler.\" Der König erklomm einen Rundpfeiler. Mit der Wendigkeit eines kleinen Äffchens erreichte er das Kapitell. Das Licht ließ ihn schimmern wie eine herrschaftliche Wanze. Seine kräftigen Arme und Beine umspannten den Pfeiler. Doch er wirkte so unbeschwert. Sein Gesicht wandte sich mir zu, daß ich Angst bekam, er würde sich das Genick brechen.
\"Seht Ihr!\" Er berührte liebevoll das Kapitell.
\"Ihr reichtet jedoch noch nicht an das Gewölbe?\"
\"Nein, natürlich nicht. Ich hätte mich sehr strecken müssen. Und es wäre überdies sehr gefährlich gewesen. Von dem Seil hätte ich trotz seiner Stärke fallen können. Ich hätte mir das Genick gebrochen. Und das konnte ich nicht riskieren. Meine Kirche braucht mich. Nein, ich nutzte einen hohen Stuhl, stellte ihn mit zwei kräftigen Beinen auf das Seil. Dann stellte ich mich auf die Lehne. Auch dann mußte ich mich noch strecken.\"
Ich begann, ihn zu verstehen.
\"Ihr nanntet mich Heinrich. Ihr kennt mich also?\"
Geschmeidig wie eine Feder ließ sich der König wieder auf den Boden fallen.
\"So kann man das nicht sagen. Ich las lediglich etwas über Euch,\" zuckte ich mit den Schultern.
\"Ihr habt über mich gelesen?\"
Sein stattlicher Körper lehnte sich zurück. Stolz strich sich der König über den Bauch.
\"Was könnte in einem einfachen Buch über mich stehen?\"
\"Wer Ihr wart, was Ihr Euer Leben lang tatet, und wessen Leben Ihr zur Hölle machtet.\"
\"Ich hasse es, daß Ihr von mir in der Vergangenheit sprecht. Es spricht für Eure Mißachtung mir gegenüber.\"
Schuldbewußt senkte ich den Kopf, während er lehrmeisterhaft an mir vorbeischritt.
\"Versteht doch. Die sterbliche Geschichte geht von Eurem Tod aus.\"
\"Wer bin ich?\" drehte er sich zu mir um; die Arme hinter dem Rücken verschränkt.
\"Was meint Ihr?\"
\"Ich sagte: Wer bin ich?\"
\"Das wißt Ihr nicht? Ihr reagiertet auf Euren Namen.\" Ich war verwirrt.
\"Es war nämlich das erste Mal, daß überhaupt jemand mit mir sprach. Wie soll ich da einen Namen haben?\"
Der König war auf einmal viel kleiner. Seine prunkvollen Kleider hingen an ihm herab.
Schwerfällig setzte er sich auf eine der vielen leeren Bänke. Das fahle Licht, das durch die Fenster kroch, lag auf seinem Gesicht. Ich legte meine Hand auf seine herabhängende Schulter.
\"Seit ich denken kann, baue ich diese Kirche. Es ist wahr, ich erinnere mich noch genau, wie ich den ersten Stein für das Fundament legte. Ich weiß noch heute, wie stolz ich war, als ich den kalten, harten Stein in meinen Händen spürte. Fühlte ich doch, daß diese Kirche mein Lebensinhalt sein würde. Durch sie lebe ich.\"
Versonnen strich er über die Bank, auf der er kauerte. Sein Fuß schwebte über dem kalten Boden.
\"Versteht Ihr? Sie ist meine große Liebe. Sie ist doch alles, was ich habe.\"
\"Was ist mit den Menschen? Ihr sagtet doch selbst, daß Ihr für die Menschen, für die Gläubigen, die hier etwas suchen, diese Kirche bautet.\"
„Wahrscheinlich war ich zu verwirrt, weil Ihr der erste Mensch seid, der mich in meinem Leben besucht. Ihr müßt wissen, nichts verändert sich wirklich an diesem Ort. Meine Kleidung ist seit der Grundsteinlegung immer dieselbe geblieben. Ich hatte keine andere. Und sie zerreißt nie. Glaubt mir, ich habe es versucht. Keine Gewalt der Erde kann ihr etwas anhaben. Seht, trotz der schweren körperlichen Arbeit, ist kein Fleck zu sehen. Nicht einmal ein Staubkorn!
Auch altere ich nicht. Ich sah und sehe immer so aus. Daran wird sich wahrscheinlich nichts ändern.\"
Für mich existiert kein Tag, keine Nacht, keine Ruh`, geschweige denn Schlaf. Das Licht ist immer da. Und ich habe alles, was ich für meine Arbeit brauche. Nie dachte ich an etwas Anderes. Jeder Moment war für mich eine Erfüllung, ein unglaublicher Genuß. Ich wähnte mich im Himmel. Jeder Stein ist ein Teil meines Körpers. Ein Knochen möglicherweise. Die Farbe in dieser heiligen Stätte ist mein Blut. Ich glaube, sie fließt durch mich. Meine Familie sind die Heiligen; sie geben mir die Wärme, die ich brauche. Ich kümmerte mich um ihr Wohlergehen. Es war meine Aufgabe, ihnen zu einem angenehmen Platz in dieser Welt zu verhelfen.\"
Er lächelte sanft.
\"Woher sollte ich dann wissen, wer ich war, und woher ich kam? Es war nie von Belang. Wichtig war nur das Gemäuer. Die Architektur war das Göttliche. Ich brauchte diese Dame und sie mich.\"
\"Was änderte sich?\"
\"Ihr tratet in mein Leben.\"
Er sah mich kurz an und trat auf den Mittelgang.
\"Mein Lebenswerk ist beendet. Den Heiligen gab ich ihren überirdischen Glanz. Die Fenster sind geputzt, Speck in den Fallen für die Mäuse aufgestellt, Blumen arrangiert und die Kissen der Bänke geschüttelt. Für mich gibt es keine Aufgabe mehr.\"
\"Eine Kirche ist doch ähnlich einer....einem..\" Mir fiel kein passendes Wort ein, um ihm in wenigen Minuten eine neue Lebensaufgabe geben zu können.
\"Sie ist wie .... . Genau, sie ist doch Euer Heim, deshalb braucht sie Eure Fürsorge. Wer putzt die Heiligen, wenn Ihr jetzt aufgebt? Überlegt Euch genau, wie sich die Heiligen fühlen, wenn sie nicht mehr sauber sind. Oder wie würdet Ihr Euch fühlen? Er hier,\" Ich ging auf einen zu selig lächelnden Alten mit einem Rauschebart zu, \"Er wird die Welt nicht mehr mit diesen klargeputzten Augen sehen können. Oder diese intensiv duftenden Blumen!\" Ich roch an ihnen. Das hätte ich besser nicht getan. Denn meine Sinne schwanden. Ich erkannte, warum die Plastiken so lächelten. Meine Finger mußten sich um die nackten Zehen des bärtigen Alten krallen.
\"Ich bin doch nur der Architekt.\"
Der König setzte sich mit gekreuzten Beinen in die Mitte der Vierung. Sein Blick richtete sich stur auf den Altar.
\"Die Kathedrale braucht Euch.\"
Ich schritt durch die Bankreihen. Mit der linken Hand schlug ich regelmäßig auf das glänzende Holz. Ich fühlte, ich konnte dem armen König in seinem Reich nicht helfen.
\"Ihr braucht eine neue Aufgabe,\" überlegte ich laut.
\"Mein Leben ist diese Kirche.\"
\"Das ist nur ein kaltes Gemäuer,\" gab ich gedankenverloren zurück.
Versteinert saß der arme König inmitten seiner Welt. Ich sah meinen Heinrich gedankenverloren an. Ich musste eine neue Lebensperspektive für ihn finden.
\"Heinrich! Das ist es!\" Ich stürzte auf den König zu. Die letzten Meter rutschte ich jedoch auf den Knien. \"Zerstört sie!\"
\"Was?\"
\"Ihr seht aus wie der König von England. Also handelt auch wie er.“
Er krallte seine mächtigen Finger in meine Arme. Seine Augen traten aus den Höhlen und rollten entgeistert auf den Boden.
\"Heinrich war Katholik, trennte sein England aber 1534 von Rom, um die anglikanische Staatskirche zu errichten. Er fungierte als weltliches Oberhaupt.\"
\"Und?\" Er wirkte nur noch verwirrt.
\"Versteht Ihr denn nicht? Er wollte sich von seiner ersten Frau scheiden lassen, als die katholische Kirche ihm das aber verweigerte, erklärte er eine eigene Religion für England und seine Ehe für nichtig. Er errichtete eine neue Kirche in seinem Reich; dafür zerstörte er katholische Kirchen und beschlagnahmte Kirchenbesitz. Er fürchtete einfach, Gott würde ihm einen Sohn verwehren. Herinrich veränderte sein Leben, den Glauben seines Volkes und ruinierte das Leben vieler anderer.
Fangt etwas Neues an, indem Ihr das Alte zerstört.\"
\"Ich habe Angst. Ich kann meiner großen Liebe nichts antun. Ich würde ihr doch Schmerzen zufügen.\"
\"Ihr könntet Ihr Gutes tun, indem Ihr sie größer, schöner und göttlicher erbaut. Das Alte liebt Ihr. Ich kann es sehen. Doch Ihr verliert Euer Leben, weil Ihr nicht wißt, was Ihr damit anfangen sollt. Zerstört es. Erschafft Eure Liebe neu. Baut und Ihr werdet leben! Welche großartigen Pläne könntet Ihr an der zweiten Kathedrale verwirklichen!“
Berauscht fegte ich durch die Basilika. Meine Füße berührten den Boden nicht mehr. Das Gefühl, einem Menschen helfen zu können.
\"Kommt! Suchen wir das Werkzeug für den Wiederaufbau!\"
Neben dem Altar lehnten zwei mächtige Hammer. Noch ehe ich mir einen über die Schulter werfen konnte, stürzte der König an mir vorbei. Für einen kurzen Augenblick fürchtete ich, er würde eine Dummheit begehen. Er könnte versuchen, alles zu verhindern und sich somit seine Zukunft verbauen. Doch er griff mit strahlender Energie nach der Waffe.
\"Ich bin bereit. Die Zukunft wartet auf mich.\" sauste er durch den Mittelgang.
Eine Entschlossenheit hatte den König ergriffen. Schon sah ich Holz splittern, ganze Bänke schossen an das Gewölbe. Den Glanz der Heiligen bedeckte reiner Staub des Neuaufbaus, ihr Lächeln war noch seliger geworden.
Angetrieben von seinem Elan, hieb ich mit ungeahnter Kraft auf die Steine der Pfeiler ein. Funken sprühten durch die gesamte Kirche. Staub verhüllte die heilige Halle. Knirschen klingelte in meinen Ohren. Auch sein Keuchen schwebte herüber. Ich konnte ihn zwar nicht sehen, doch ich spürte seine Vorfreude. Steine stürzten auf den kalten Steinboden. Auch die liebevoll eingesetzten Schlußsteine hielten sich nicht mehr allein in der Luft. Buntes Glas splitterte. Die Pfeiler sanken in sich zusammen. Der Altar neigte sich langsam, aber bestimmt in die Halle hinein. Auch die Heiligen fielen von ihren Sockeln, die sie in den Himmel hoben, auf die Erde der Sterblichen. Doch der Glanz erstarb nicht. Der bärtige Heilige sah mir durch den Staub in die Augen. Die Blumen verströmten einen intensiveren Duft als jemals zuvor.
Ich lauschte.
Ein zartes Knirschen ertönte in meinem Rücken. Licht fiel durch den Staubschleier. Ein Kreisel an Farben erschien im Kirchenschiff. Das Rosettenfenster neigte sich langsam und allmächtig zum Boden. Glassplitter flogen den Trümmern entgegen. Ganz langsam, unendlich langsam sah ich das große, außergewöhnliche Fenster, wie es im Staub versank. Die Geräusche der Zerstörung folgten jedoch erst lange Sekunden später. Ich rannte unter dem Rosettenfenster durch die zersplitterte Holztür.
Es war spät, viel zu spät. Der Spiegel zeigte mir, daß es auch für etwaige Korrekturen zu spät war. Meine Haare standen einmal wieder zu Berge. Keine Steckdose könnte so gründlich sein. Ich richtete die Haare an meinem Kinn.
\"Und nun folgen die Auslandsnachrichten. Es ist 7 Uhr 43 Minuten und ein paar Sekunden.
Paris: Die Pariser Polizei gibt bekannt, daß sich um 4 Uhr 35 in der Nacht ein verrücktgewordener Mann in altmodischen Kleidern in der berühmten Kathedrale Notre-Dame ......... .\"
\"Heinrich!\"
Ich rannte mit der Zahnbürste im Mund in mein Zimmer zurück. Ich starrte aus dem Fenster. Die triste Straße war menschenleer. Kein Hinweis deutete auf eine mögliche Neuerrichtung der Pariser Kathedrale.
Fassungslos wandte ich meinen Kopf. Nach einem kräftigen Ruck rannte ich durch das Wohnzimmer auf den Balkon. Und ich beugte mich weit über die Brüstung: Inmitten seiner Kirchenruine saß der König und rieb liebevoll mit einer Speckschwarte über einen verstümmelten Heiligen.