Ein Tag in meinem Leben (2006)
Ein Nein! in meinem Kopf. Meine Antwort auf die schmerzhafte Frage des Weckers. Das war keine Frage, das war eine Aufforderung. Als einmaliges Ereignis wäre es schlimm genug, das Prozedere wartet aber jeden Morgen auf mich.
Tagein, tagaus: morgens aufstehen. Kaffee, Kaffee, Kaffee. Ich habe mich in einen wenigsten semiwachen Zustand zu bringen.
Schließlich ins Bad, daran denken: morgens die blaue, abends die rote Zahncreme.
Anziehen. Die Mühe mit den Schuhen (man hat ja gerade dann einen Knoten in den Schnürsenkeln, wenn es schnell gehen muss). Dann raus. Raus! In die Kälte, in den Tag, ins Leben.
Wer verlangt von einem ein derartiges Martyrium? Wer sagt »Steh? auf«? Wer fordert »Raus in die Kälte«? Wer bringt mich dazu, ins Leben zu tauchen, am Leben teilzunehmen? An diesem Leben, wie ein Leben aus dem Lexikon.
Leben, 1. Biologie: physiologisch eine Vielzahl von chemischen und physikalischen Vorgängen an Materie bestimmter Zusammensetzung, die auf eine Erhaltung und Vermehrung dieser Materie hinauslaufen. 2. Kultur: kulturanthropologisch eine Bezeichnung für den Affirmationsvorgang eines normativen Exempels im Subjekt mit ganz bestimmter Zusammensetzung, das auf die Erhaltung dieses normativen Lebensexempels hinausläuft.
Das wurde nicht ohne Grund so verfasst, dass man es nicht versteht. Wer weiß, wem oder was wir uns verschreiben würden?
Im Lexikon werden all die großen Fragen festgehalten, die uns dann beginnen zu beschäftigen, wenn wir aus dem normativen Exempel herausfallen, wenn der Rhythmus disharmonisch wird, sich der schwüle Gesang der Anpassung zum schmerzerfüllten Aufschrei wandelt.
Es gibt Menschen, die besitzen keine roten und blauen Zahncremetuben. Die wären glücklich um wenigstens irgendeine Zahncreme. Und was tue ich? Ich schimpfe darüber.
Allein der Gedanke, dass eine Wahl besteht zwischen der Mineralisierung der Zähne und der Stärkung des Zahnfleischs, ist wahrlich fortschrittlich. Ehrlich? Er ist bizarr. Auf der blauen Tube heißt es: forte. Forte gibt es auch in der Musik. Da bedeutet es kraftvoll. Kraftvoll die Partituren putzen. Die Partituren der Anpassung.
Ich bin mir gar nicht mehr sicher, ob wirklich eine Wahl besteht, denn die rote Tube soll ja abends und die blaue morgens (insbesondere nach dem Frühstück) verwendet werden. Elender Rhythmus. Das ist nur eine Scheinwahl. Eine Illusion.
Also gut, raus! Treppenhaus, Haustür, Nachbarn. Weiter. Immer weiter. Nur gehen und denken. Ich gehe vor mir weg. Ich laufe vor mir weg. Ich laufe in meine Gedanken; und falle heraus aus dem normativen Lebensexempel.
Ich bin am gehen, am gehen, völlig ziellos. Zweckbefreit. Das öffnet den Blick ins Detail.
Auswegloses Gedankenkarussell! Dennoch: weiter.
In dieser Welt zu leben ist ein fragiles Unterfangen. Aber ja: zu leicht kann all das, was man zu erleben imstande ist und woran man zu reifen wagte, zersplittern. In abertausende kleine, scharfe Scherben. Bei dem schier hoffnungslosen Versuch das Ganze wieder zusammen zu setzen, einem Puzzle gleich, schneidet man sich die Finger auf.
Einige Scherben dieser Welt sind wie Telefonschleifen. Immerzu knistert die Stimme am anderen Ende der Leitung eine langweilige Litanei. Oder man muss Nummern eintippen, während der Kostenzähler rotiert. Die nennen das dann Service, wenn man fürs Warten bezahlen darf.
Andere Scherben kann ich weder greifen noch begreifen. Die liegen jenseits meiner Möglichkeiten, jenseits meiner Fingerlängen.
Irgendwann kehre ich um. Genug der Gedankenmaschinerie. Der Tag geht, der Abend naht. Abends sitze ich vor meinem Computer. Ich sollte schreiben. Schreiben über das Leben, über mein Leben.
Im Kern ist mein Leben wie das Herz eines Computers. Auch nur programmiert. Es gibt nur Nullen und Einsen. Ich bin eine der Nullen. Ich bin Teil eines großen dualistischen Plans: einer Weltordnung, die in mein Gehirn gepflanzt wurde.
Im Leben bin ich nur das hohl-hölzerne Püppchen des großen Marionettenspielers. Ich meine jenen, den das Publikum Freiheit nennt. Jenen, dessen wahrer Name aber Form ist.
Aber du brauchst die Form für das Leben. So heißt es doch? Denk an das Lebensglück!
Lebensglück, auch eine Lexikonvokabel.
Lebensglück, siehe Leben, siehe Glück.
Das Leben kenne ich. Eine zweite Ernüchterung spare ich mir. Ich springe zum Glück.
Glück, hat zwei unterschiedliche Bedeutungen: 1. Glück als positiv empfundener Zustand, im Sinne von »Glück empfinden«, 2. Glück als positiver Zufall oder unverdienter Umstand, im Sinne von »Glück haben«. Beide Formen sind vom Verb »gelingen« abgeleitet. Glück ist demnach ursprünglich das Gelungene oder der günstige Ausgang eines Ereignisses. Dieses Ziel muss nicht durch Talent oder ähnliches erreicht werden, sondern wird ohne Leistung bzw. eigenes Zutun erreicht.
Ich verstehe. Leben ist nicht. Leben soll sein! Das Ziel ist ein ohne Leistung erreichter Glückszustand. Das Lebensglück. Das ist so einfach.
Aber ich verstehe nicht, warum ich mit meinen Gedanken anecke. Vielleicht mache ich mir zu viele Gedanken?
Was bleibt sind die unbeantworteten Fragen im Kopf. Mit diesem Gefühl ungelöster Einigkeit gehe ich zu Bett.
Vielleicht finde ich die Antworten im Traum; hier, wo die Gesetze des Rationalen außer Kraft gesetzt sind. Hier kann ich meine Suche fortführen. Wenigstens so lange, bis ich wieder dieses Nein! im Kopf habe.