Das Theater Subversiv (2006)
Ich träume von einem Theater. Das ist ein Renaissance-Gebäude, vor dem ehrsinnige Banner gehisst wurden. Man zeigt halt Fahne.
Jeden Samstagabend gibt es auf der Hauptbühne ein Stück zu sehen. Meistens Bühnenspiele von Nikos Thanatopoulos. Herr Thanatopoulos ist Grieche und ein Meister der Tragödie. Er inszeniert klassisch, nach antikem Vorbild. Seine Stücke sind aber experimentell.
Es sei ihm ein Anliegen, wie er neulich in einem Interview im Rundfunk kund tat, dass der Glanz klassischer Wohlgestalt durch den modernen Impetus seiner Kunst erfüllt, und dadurch die überzeitlichen Aspekte der Tragödie neu interpretiert werden könnten. Gut, was Herr Thanatopoulos zum Ausdruck bringen wollte, verstanden die wenigsten. Der Rundfunk konstatierte: Der große Thanatopoulos hält die klassische Epoche für beendet und leitete mit seinen Bühnenstücken die Phase der experimentellen Tragödie ein.
Herr Thanatopoulos bedient sich einer ganz besonderen Weise, das Theater und seine Stücke im großen Publikum präsent werden zu lassen. Hierbei erhält er Hilfe von der Intendantin des Theaters. Sie war früher Tanzlehrer.
Bevor Nikos Thanatopoulos ein neues Stück auf die Bühne bringt, sucht er die Handlungsorte im richtigen Leben auf, zwecks Recherche. Die Themen seiner Stücke werden auf diese Weise gefunden. Das letzte Stück spielte also in einer psychiatrischen Anstallt. Große Bewunderer bangten um Herrn Thanatopoulos, da es nach zweijährigem Aufenthalt an eben diesem Ort rechtspsychiatrisch nicht eindeutig war, ob er überhaupt je noch einmal diese Anstallt hätte verlassen dürfen. Aber er hatte fähige Ärzte, die ihm einen Freigang beeidigten.
Was ich damit sagen will ist, dass in diesem Theater, von dem ich träume, die Werke und Themen das Leben schreibt. Das ist die beste Reklame!
Unter dem Theater werden Tunnel gegraben, weil die Intendantin die Auffassung vertritt, dass es im Kern der Stadt Reste einer vorzeitlichen Kultur gibt; so heißt es im Programmheft des neuen Thanatopoulos-Stückes, dass ?diejenigen, die tief graben, auf allmögliche Skurrilitäten stoßen können?. Diejenigen, die nach und in den Dingen graben.
Die künstlerischen Inszenierungen in diesem Theater können sich am Leben messen. Spiel und Tunnelausschachtung geschehen im Angesicht von Blut und Bier. So richtig mit Schaufeln und Grubenhelm.
Grubenhelme und Schutzwesten erhalten auch die Zuschauer des neuen Theaterstückes, denn man soll sich in die Szenerie einfühlen.
Interessante Fundstücke, die aus den Tunneln unter der Stadt ans Tageslicht gefördert wurden, werden in einem Labor untersucht. Die Kunst klassifiziert, kategorisiert und man überprüft die Substanz der Objekte unter einem Elektronenmikroskop.
Aus diesen Objekten werden konkrete Wörter geschaffen. Meistens werden es verquerte Überlegungen. Doch sie sind echt, sozusagen manuell aus der Stadt geschürft, nicht im abstrakten Hohlraum erzeugt und am Schreibtisch entwickelt.
Das Theater, von dem ich träume, bedient sich einer ungewöhnlichen Sprache. Ungewöhnlich für die gesamte Theater- und Kunstlandschaft. Sie ist lebenskonkret.
Da Sprache allzu oft nur leeres Gefäß, und den profanen Augen des Verstehens verborgen bleibt, soll auf elitäre Wortklaubereien verzichtet werden. Zwischen der sprachlichen Hülse und dem lebenskonkreten Handeln liegt nämlich das Land des Verstehens. Und hier marschieren strenge Grenzpatrouillen.
In den Thanatopoulos-Stücken werden gerade die leeren Wortgefäße zerschmettert; wie Geschirr auf einem Polterabend. In den meisten Fällen bestehen sie nur aus dünnwandigem Glas. Die ungewöhnlich lebenskonkrete Sprache, die aus Zucht- und Irrenhaus Einzug ins Theater findet, wird in dem thanatopouleischen Scherbenhaufen wieder entdeckt, zusammengesetzt, fermentiert und zu einem Werk verwandelt. Ein Werk ? und was für eins.