Ein Koffer voller Angst
Viele Menschen haben Angst. Manche haben Angst, zu denen ich auch gehörte, dass die Schule einen verschlingt, bevor man sie beendet hat. Andere, dass ihr Studium irgendwann zu Ende sein könnte und sie nie wieder hip und jung sein werden.
Vor kurzem besuchte uns ein Bekannter eines Mitbewohners in unserer WG. Er meinte, wenn er aus einem Vorstellungsgespräch für einen 1€-job komme, dann sei er immer total gerädert. Er müsse sich so zerreißen, nicht zu nett zu sein, als dass ihn das Unternehmen zum Tellerwaschen einstellen würde, und nicht zu desinteressiert zu wirken, als dass jemand seine Ablehnung bemerken würde. Die Angst vor dieser Situation kann ich mit ihm teilen. Doch acht Stunden am Tag arbeiten, wolle er nie im Leben.
Genauso befürchten viele Angestellte, ihren Arbeitsplatz zu verlieren und dann womöglich auch in die 1€-Job-Situation zu rutschen. Einige fürchten, sie seien nicht Deutschland.
Und natürlich haben viele Angst vor dem Terrorismus.
Dabei muss ich immer an ein Bild denken, wie ein orientalisch-arabisch erscheinender Mensch mit einem eckigen schwarzen Koffer mitten auf einem größeren öffentlichen Platz in Berlin zwischen zahlreichen Menschen steht und mit unrasiertem Gesicht in die Ferne guckt. Von einer Seite kommt eine Einsatztruppe der Polizei herangeschnellt und ruft ihm durch ein Megaphon etwas zu, wie, er solle seinen Koffer auf der Stelle öffnen. Auf einer Bank knutscht ein deutsch-türkisches Pärchen. Jedenfalls ist der Junge blond und sie scheint Migrationshintergrund zu haben.
Als letztes fällt mir dann immer eine Gruppe von Menschen am Rande des Platzes auf. Sie haben ihre ebenfalls schwarzen Koffer abgestellt und scheinen aus den verschiedensten Teilen der Welt zu stammen. Sie greifen alle gleichzeitig in ihr Gepäck. Bei dem einen lugt etwas längliches, metallisch Glänzendes heraus, der andere hat einen dunkelbraunen gewölbten Körper in der Hand. Schließlich erkenne ich eine Trommel eines Schlagzeugs. Es ist eine Straßenband, die gerade ihr Set aufbaut.
Mein Blick wandert zurück zu dem Menschen, der mit dem großen eckigen schwarzen Koffer mitten auf dem Platz steht. Die Polizei wird ihn gleich festnehmen. Doch plötzlich fällt es mir wie Schuppen von den Augen: Er gehört zur Band und möchte sich bloß kurz einen Eindruck von dem Platz machen. Die Polizei wird gleich ein exotisches Instrument finden, und feststellen, dass er gar kein Terrorist ist. Auf seinem Koffer steht in kleinen Buchstaben: "We're not afraid!"
(Das Bild ist natürlich fiktiv und gestellt. Ich habe vor, es einmal als Photoprojekt zu verwirklichen. Der Mensch mit dem eckigen schwarzen Koffer wäre ein persischer Freund. Er spielt semiprofessionell ein klassisches persisches Hackbrett, die Santur, ein Vorläufer des Klaviers. Seine Musik ist wundervoll sphärisch, meditativ und sehr schwer zu spielen. Um das große Instrument zu transportieren, trägt er es in einem schwarzen Koffer. Dass er regelmäßig beim Überqueren öffentlicher Plätze von der Polizei angehalten und kontrolliert wird, ist Realität. Es gehört fast zu seinem Alltag.
Eine Mitschülerin meiner Grundschulzeit traf es weitaus schlimmer. Sie ist Bosnierin und lebte auf Asyl in Berlin. Sie sprach Deutsch zwar etwas langsam, aber nicht schlecht. Eines Tages kam sie einfach nicht mehr zur Schule. Irgendwann erfuhren wir Schüler schließlich, dass sie in ihr "Heimatland" Bosnien, wo die Nachkriegsbedingungen immer noch katastrophal gewesen sein müssen, abgeschoben wurde.
Wer vor wem oder was Angst haben muss, ist die zentrale Frage, um die sich mein Bild dreht. In Berlin fürchten sich bestimmt genauso viele Menschen vor Terroranschlägen, wie vor den Rechtseinschränkungen, die zum Schutz davor erlassen werden. Nur die Ängste, die die Menschen mit Migrationshintergrund, die mutmaßlichen Attentäter, alltäglich belasten, werden kaum wahrgenommen. Viele werden durch Kontrollen gestört oder müssen fürchten, plötzlich ihre Aufenthaltsgenehmigung zu verlieren.
Und trotz allem würde ich auf seinen Koffer schreiben: "We're not afraid!" In dem Maße, wie die große Angst heute wieder allgemein in Mode ist, wie sie vermarktet und der Einzelne durch sie beeinflussbar wird, finde ich sie gefährlich. Einer Umfrage zufolge hat noch vor einem Jahr fast die Hälfte aller Bundesbürger angegeben, Einschränkungen der Freiheitsrechte für mehr Sicherheit hinzunehmen.
Dagegen könnten die Darsteller ein Zeichen setzen. Wovor sollen Musiker eigentlich auch Angst haben?
Also: Don't be afraid of the fear!)
) 7.2.06 (